Die andere Seite des Spiegels

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Das Leben von Sinsheims Oberbürgermeister Jörg Albrecht war von Ehrgeiz und Arbeit getrieben…. bis es irgendwann nicht mehr weiterging.

Eigentlich ist Jörg Albrecht kein Mann, der seinen Emotionen ungezügelt freien Lauf lässt. Vielleicht weil ihm der Zugang zu Ihnen manchmal schwer fällt, oder er so sehr mit anderen Dingen ausgelastet ist, dass für den Blick nach innen kaum Zeit bleibt. Am 26. Februar bekamen die Menschen in Sinsheim jedoch einen kurzen Eindruck davon, wie es unter der harten Schale ihres Stadtoberhauptes, ihres Oberbürgermeisters aussieht. Als Jörg Albrecht einräumt, dass er so nicht weitermachen kann, dass er einen Punkt erreicht hat, an dem er den bislang so konsequent und unbeirrt zurückgelegten Weg nicht mehr weiter verfolgen kann, bricht es aus ihm heraus. Die Lieder zucken und ein paar Tränen fließen über die Wangen des 55-Jährigen. Es war ein Moment, in dem sehr viel zusammengekommen ist, erzählt er im Hügelhelden-Interview. Der ganze Druck der hinter ihm liegenden Jahre und Monate habe sich Bahn gebrochen, sich regelrecht entladen.

Wie viel Druck sich da tatsächlich aufgebaut hat, wird im Laufe des Gespräches immer klarer. So viel vorneweg: Es ist eine Entwicklung, die im Grunde schon vor langer Zeit ihren Anfang genommen hat. Um besser zu verstehen, was an diesem 26. Februar tatsächlich geschehen ist, muss man sich die Biografie des scheidenden Oberbürgermeisters etwas genauer ansehen. Jörg Albrecht kommt, so sagt er selbst, aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Polizist, seine Mutter arbeitete in mehreren geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Familie lebte im Kleinen bescheiden in Heidelberg. Jörg besucht hier zunächst die Hauptschule. Es sei ihm nie leicht gefallen zu lernen, das Verinnerlichen von theoretischen Inhalten fiel ihm schwer, erzählt er ganz offen. Das Abstrakte war seine Sache nicht, für ihn galt es, Dinge greifbar zu erleben, zu durchleben, um sie zu verinnerlichen und zu verstehen. Neuen Lernstoff musste er sich immer erkämpfen, hart arbeiten, um mit den anderen mithalten zu können. Nach der Schule wollte er es zuerst dem Vater gleichtun, bewarb sich als Polizeianwärter an der Bruchsaler Polizeischule. Doch der Tag der Aufnahmeprüfung endet für Jörg schnell und unbarmherzig. Noch bevor überhaupt der sportliche Teil beginnen kann, hieß es für ihn bereits in der theoretischen Prüfung – Endstation. “Ich hab den Idiotentest nicht bestanden”, wie Jörg Albrecht es in einer an sich selbst adressierten Härte bezeichnet, die schon beim Zuhören weh tut. “Danach habe ich geheult wie ein Schlosshund”.

Doch auch wenn Jörg Albrecht sich hier selbst einen Mangel attestiert, verfügte er doch über etwas anderes, das ihm letztlich den steinigen Weg ebnete und ihn bis dahin trug, wo er heute steht: Brennender Ehrgeiz. Der überaus starke und ausgeprägte Wunsch, voranzukommen, die eigenen Grenzen zu überwinden. Fortan fing Jörg an, diesem Streben alles andere unterzuordnen, auch das Private und den absoluten Löwenanteil seiner ohnehin spärlichen Freizeit. Jörg wollte etwas erreichen, wollte jemand sein, wollte in dieser Welt etwas bewegen und in ihr gelten. Nach dem Hauptschulabschluss wechselte er an eine kaufmännische Berufsfachschule in Heidelberg, legte dort 1986 die mittlere Reife ab. Danach schaffte er den Sprung an die Universität Heidelberg, absolvierte hier eine Ausbildung im mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst. Es folgten das Berufskolleg in Heidelberg und die Fachhochschulreife, schließlich das Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl, die er als Diplom-Verwaltungswirt verließ.

Seinen ersten beruflichen, großen Meilenstein erzielte er Mitte der Neunziger, als er einen begehrten Posten beim Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises ergatterte. In dieser Zeit lernte er seine Frau kennen, die damals bei der Gemeinde Mauer arbeitete, einem 4000-Seelen-Dorf, dort wo sich Kraichgau und Odenwald berühren. Dieses erste Aufeinandertreffen könnte man schon fast als “Verwaltungsromantik” bezeichnen, Jörg als Prüfer des Landkreises, Christiane als Vertreterin der geprüften Gemeinde. Eine Situation, aus der normalerweise eher keine innigen Gefühle entstehen, im Falle von Jörg und Christiane aber eine Ehe erwuchs, die seither und noch immer Bestand hat. Eine Ehe, aus der auch zwei Töchter hervorgingen – Annika und etwas später Ronja. Ein Foto der beiden steht in Jörg Albrechts Büro auf dem Fensterbrett, direkt neben seinem schwarzen Drehsessel. Die Fotografie ist ganz vergilbt, zeigt seine beiden Mädchen im Kindesalter. Eine Aufnahme die gut und gerne 20 Jahre alt ist, Jörg Albrechts Töchter sind zwischenzeitlich erwachsen, Ronja zog kürzlich in die Vereinigten Staaten, erzählt er.

An dieser Stelle schluckt Jörg Albrecht hart. Es ist einer der Schlüsselmomente, die letztlich dazu führten, dass er die Notbremse zog, jüngst verkündete, sein Amt als Oberbürgermeister bereits im Sommer niederzulegen. “Dir wird auf einmal klar dass deine Tochter kein Mädchen sondern eine erwachsene Frau ist, dass sie auf eigenen Füßen steht und nun auch noch so weit weg zieht”, sagt er und blickt gedankenverloren durch die großen Glasfenster seines Büros, die den Blick auf das Sunnisheim mit seiner runden Kuppe freigeben. Auch wenn er von sich selbst sagt, ein Mensch zu sein, der sich nicht groß mit Bedauern oder selbstkritischen Reminiszenzen befasst, erzählen sein Blick und dann im Grunde auch er selbst doch etwas anderes. “Ich habe den Beruf immer über alles gestellt, auch über die Familie“, sagt er und nun ist es an mir als Familienvater, meinerseits hart zu schlucken. “Egal ob die Kinder Geburtstag hatten…ganz egal, wenn etwas Berufliches im Kalender stand, ging das immer vor“, erzählt er und seine Stimme wird hart. Von seinen Urlaubstagen habe er die meisten verfallen lassen, in den ersten Jahren gerade mal vier davon genommen. Während der Urlaube habe er dennoch jeden Tag gearbeitet, das Handy immer laut in der Tasche, immer erreichbar für den Beruf und alles, was damit einherging.

So waren es der Fleiß und der Ehrgeiz, die Jörg Albrecht voran brachten, bis ganz nach oben. 2001 wurde er zum Bürgermeister der Gemeinde Mauer gewählt, 2012 kandidierte er für das Amt des Oberbürgermeisters der Großen Kreisstadt Sinsheim und setzte sich im ersten Wahlgang mit 77,2 Prozent durch, wurde 2020 wiedergewählt. Jörg Albrecht liebte seine Arbeit, gab immer die berühmten 110 Prozent, auch wenn das rein rechnerisch natürlich nicht möglich ist. Termine von sehr früh bis sehr spät, fast jeden Abend, fast an jedem Wochenende, nahezu ohne Pausen. Fast vier Jahrzehnte auf der Überholspur, immer unter Volldampf. Immer verfügbar für alle und jeden, doch nicht für die Liebsten, nicht für sich selbst.

Was das Ausmaß dieses Lebenswandel bedeutet, darüber hat sich Jörg Albrecht möglicherweise noch kein abschließendes Urteil gebildet, wirkt in seinen Erzählungen ambivalent, hier und da sogar etwas widersprüchlich. Wenn er zum Beispiel erzählt, dass es für seine Frau und seine Kinder immer in Ordnung ging, dass sie sich daran gewöhnt hatten, den Ehemann und Vater meist eher aus der Ferne zu erleben, kann man sich so gar nicht vorstellen, dass eine Familie so funktionieren kann. Beiläufig erzählt er dann auch etwas, dass seine Frau ihm einmal gesagt habe: “Du bist für alle da, außer für uns.”

Dass dieser kompromisslose Einsatz für Amt und Beruf irgendwann den entsprechenden Tribut fordern würde, ist daher nicht nur eine Möglichkeit, sondern Gewissheit. Viele Jahre lang hat dieser nahezu einzig und allein auf seinen Beruf ausgerichtete Alltag für Jörg Albrecht funktioniert, doch mit der Corona-Krise begannen seine gewohnten Strukturen erstmals zu bröckeln. “Es war furchtbar“, erzählt er, „ich habe so viele Sorgen gehabt. Wir wussten einfach nicht, wie es weitergehen soll.” Was er damit meint, sind all die Albträume, von denen im Grunde alle seine Kolleginnen und Kollegen ein Lied singen können. Ständig wechselnde Verordnungen, Änderungen mitten in der Nacht oder am frühen Morgen, Auflagen für die Bevölkerung, die man selbst kaum verstand, nicht wusste, wie man sie den Menschen da draußen verständlich machen konnte. Allen ging es schlecht damit und Jörg Albrecht, der es so sehr gewohnt war, alles im Griff und am Laufen zu halten, konnte kaum etwas dagegen tun. Ein Gefühl der Ohnmacht, das er bis dahin in seinem Leben kaum kannte.

Die Krise bezeichnet er auch als eine Art Kipppunkt für das Zwischenmenschliche in unserer Gesellschaft. Seither beobachte er viel häufiger Skrupellosigkeit, Egoismus, Abschottung und fehlenden Gemeinsinn. Und auch in ihm selbst hat zu dieser Zeit etwas angefangen zu kippen. Das erste Mal in seiner Laufbahn empfand er an manchen Tagen Termindruck, eine Unlust, sich manchen Aufgaben zu widmen. Was für die meisten von uns ganz normal ist und zum Wesen unserer beruflichen Realität gehört, war für den immer von Leistungswillen und Ehrgeiz getriebenen Jörg Albrecht ein Novum. Es begann das, was Psychologen wohl als erste Vorboten und Symptome eines Zustands körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung bezeichnen würden. Man könnte auch kurz sagen – ein “Burn out”. Es ist ein Begriff, den Jörg Albrecht im Gespräch zwar selbst ein oder zweimal erwähnt, das Wort aber im Mund wie einen abstrakten Fremdkörper um die Zunge kreisen lässt, nicht sicher scheint, ob es die richtige Vokabel für seinen, in dieser Zeit beginnenden Zustand ist.

Jörg Albrechts Schlaf beginnt sich zu verschlechtern, oft liegt er wach, grübelt und kommt kaum zur Ruhe. Vieles geht ihm durch den Kopf, zum Beispiel besagter Umzug seiner Ronja in die USA. Als dann später noch ein befreundetes Paar, mit dem die Familie regelmäßig ein paar Urlaubstage verbringt das erste Mal seit Jahren absagen muss – aufgrund großer gesundheitlicher Probleme – reifen in ihm das erste Mal Gedanken um die eigene Vergänglichkeit und mit ihnen eine Möglichkeit, von der er nie geglaubt hätte, sie jemals in Betracht zu ziehen… Aufzuhören. Manchen Menschen geht diese Option leicht über die Lippen, aber für jemandem wie Jörg Albrecht, der sein ganzes Leben lang an Zielstrebigkeit, Fleiß, Ehrgeiz, Disziplin und Strebsamkeit geglaubt und daran festgehalten hat, muss dieser Akt der Selbstüberwindung, dieser bewusste Blick auf die andere Seite des Spiegels, ein immenser Kraftakt gewesen sein.

“Es war die schwerste Entscheidung“, sagt er auch unumwunden, hat sich diese Erkenntnisfindung nicht leicht gemacht. Eine der größten Hürden war genommen, als er die E-Mail abschickte, in der er seine engsten Vertrauten informierte und die Pressekonferenz anberaumte, auf der er die Medien, seine Kollegen, die Ratsmitglieder und die Menschen in Sinsheim ins Bild setzen wollte. Erlösung brachte dann der Moment, als die zu Beginn erwähnten Tränen flossen. Tränen der Rührung, aber insbesondere Tränen der Erleichterung.

Jörg Albrecht geht es gut mit seiner Entscheidung, er hat seinen Frieden damit gemacht, so sagt er. Er blicke der Zeit nach dem Sinsheimer Rathaus optimistisch entgegen. Er hat bereits jetzt eine schöne Aufgabe (Jörg Albrecht übernimmt den Vorsitz der gemeinnützigen Organisation “Anpfiff ins Leben”), wird sich nicht ganz ins Private zurückziehen. Aber auf jeden Fall mehr als zuvor, was – man möge mir verzeihen- nicht schwer ist. Mehr Zeit mit seiner Frau Christiane, mehr Zeit für seine beiden Töchter, wenn sie zu Hause vorbeischauen. Zum Beispiel beim gemeinsamen Abendessen der ganzen Familie Albrecht, das noch regelmäßig in seinem Elternhaus zu den wenigen Ritualen zählt, die der Beruf nicht mit sich gerissen hat.

Wie es für ihn sein wird, Ende August das letzte Mal dieses Büro zu verlassen, in dem er im Grunde die letzten zwölf Jahre gelebt hat, möchte ich zum Schluss von ihm wissen? “Ich werde vom Schreibtisch aufstehen, mich vielleicht noch einmal umdrehen, mich umschauen und dann aus der Tür gehen und nicht zurückblicken“, sagt Jörg Albrecht und seine Augen funkeln. “Ich werde Sinse immer verbunden bleiben und freue mich auf schöne Momente”.

Diese schönen Momente möchte man ihm mehr als alles andere wünschen, mehr Zeit für all das, was über die Jahre zu kurz kam. Zeit für seine Familie, seine Freunde, sein Mountainbike und natürlich – Zeit für ihn. “Wer sein Herz dem Ehrgeiz öffnet, der verschließt es der Ruhe”, lautet eine alte chinesische Weisheit. Wie wahr!

Lieber Jörg, vielen Dank für Deine Offenheit, nun ist Zeit Dich auszuruhen.

Stephan Gilliar
April 2024

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