Die schlimmsten Stunden ihres Lebens

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Roland Walther hat als Arzt schon viele Organtransplantationen begleitet und weiß daher genau: Für die Angehörigen der Spender ist dieser Alptraum kaum in Worte zu fassen

von Stephan Gilliar

Wie nahe mir der folgende Artikel geht, war mir erst in dem Moment klar, als ich sah, wie nahe er ihm geht. Roland Walther, ein gestandener und erfahrener Arzt, heute Regionaldirektor der beiden Kliniken in Bruchsal und Bretten, begegnet meinen Fragen nicht mit Allgemeinplätzen oder höflich einstudierter Distanz, sondern gewährt mir tiefe Einblicke in eine Welt, die ich bislang nicht wirklich kannte. Eine Welt, die sich um die dünnen, äußeren Nahtstellen unserer Existenz spinnt – dort wo Leben und Tod aufeinandertreffen. Ein unausweichlich auf jeden einzelnen von uns zukommendes Momentum, das wir jedoch tunlichst an den Rand unserer Wahrnehmung und fernab unseres Bewusstseins und unserer Aufmerksamkeit verdrängen. Anstatt uns auch mit unserem Tod zu beschäftigen, der im Moment unserer Geburt zur unabdingbaren Konsequenz unseres Daseins wird, zögern wir uns dieser notwendigen Auseinandersetzung zu stellen, bis es am Ende andere tun müssen. Diese anderen sind fast immer jene Menschen, denen wir im Grunde am wenigsten diese Bürde auferlegen wollen… unsere Familien, unsere Partner, all jene, die wir lieben und die uns nahe stehen.

Das ist eines der zentralen Dilemmas der Transplantationsmedizin, der Grund, warum die Organspende in Deutschland auf klägliche Zahlen kommt. Der Grund, warum auf einen Bedarf von etwa 10.000 Spenderorganen nicht einmal 1000 Spender kommen. Kaum jemand möchte sich zu Lebzeiten mit einer solch schwierigen, solch einer schmerzhaften Frage beschäftigen. “Kaum einer möchte das selbst in dem Moment tun, indem es nicht mehr anders geht” erzählt Roland Walther und der Blick des kahlköpfigen Hünen, dessen wettergegerbtes Äußeres im ersten Moment dazu verleitet, das reiche Innenleben dieses feinsinnigen Mannes zu übersehen, wird noch eine Spur härter. Er hat ihn schon oft erlebt, diesen Moment, wenn er die Angehörigen nicht nur darüber unterrichten muss, dass ein geliebter Mensch gestorben ist, sondern sie auch mit der Möglichkeit konfrontieren muss, dass dessen Organe unter Umständen andere Menschenleben retten könnten.

An dieser Stelle müssen wir kurz innehalten, denn dieser letzte Satz kann so nicht stehen bleiben. Er bedarf, eingedenk der auf ein paar lächerliche Worte reduzierten Bedeutung, einiger Erläuterungen. Lassen Sie uns in wenigen Momenten hierhin zurückkehren, zunächst unser Augenmerk darauf lenken, welche Voraussetzungen überhaupt gegeben sein müssen, um in eine solch schreckliche Situation zu kommen. Sie werden nicht umhin kommen an die Stelle des folgenden anonymen Beispiels das Gesicht eines ihrer Lieben zu setzen, das geschieht ganz unwillkürlich, auch mir bei jeder einzelnen der dutzendfachen Durchsicht dieser Zeilen. Damit die medizinische Voraussetzung für eine Organspende überhaupt erfüllt ist, muss das Herz-Kreislauf-System eines Menschen weiter funktionieren, während die Hirnfunktionen irreversibel – also unumkehrbar – geendet haben.

Schon jetzt können Sie sich vorstellen, wie selten so etwas geschieht. Stirbt ein Mensch beispielsweise bei einem Unfall, hört sein Herz auf zu schlagen, setzt die Atmung aus, ist nach wenigen Momenten das ohnehin kleine Zeitfenster bereits für immer geschlossen. Transplantiert werden können nur gesunde und natürlich lebende Organe, das schließt schwache und lange an Krankheiten leidende Körper ohnehin meist aus. Kommen wir zurück zum Bild des Unfalls. Angenommen, ein junger und gesunder Mensch wird bei einem solchen Unfall schwer verletzt. Er oder sie erleiden dabei schwere Kopfverletzungen, ein Schädel-Hirntrauma, während Ersthelfer aber Herzschlag und Atmung aufrechterhalten können. Ein solches Szenario wäre unter Umständen eine passende Voraussetzung für eine Organspende. Lassen Sie uns dieses Bild – so grausam es auch ist – noch etwas vergrößern. Dieser Mensch käme in ein Krankenhaus, läge in einem Krankenhausbett, würde genauso aussehen wie all die anderen Menschen in ihren Betten. Die Haut wäre warm, wäre rosig, der Brustkorb würde sich durch die Beatmungsmaschine heben und Senken, das Herz würde schlagen, der Puls wäre spürbar. Genau das ist der persönliche Limbus für die Angehörigen, weiß Roland Walther genau. “Da muss etwas in die Köpfe rein, was eigentlich in keinen Kopf reingehen kann”.

Er hat dann die Aufgabe den Angehörigen zu erklären, dass ihr geliebter Mensch tot ist. Dass er tot ist, obgleich sein Brustkorb sich hebt, obgleich sein Herz schlägt. Denn wenn die Aktivität im Gehirn irreversibel beendet wurde, wenn dadurch kein, aber auch wirklich kein Weg mehr zurück in ein geistig-waches Leben, in irgendeiner Art von Bewusstsein möglich ist, dann ist für die Medizin der Tod eines Menschen eingetreten. Seit 1968 gibt es diese Definition des Hirntodes, eingeführt mit der damals aufkommenden Transplantationsmedizin. Bis zu diesem Zeitpunkt war es jahrtausendelang schlicht die Verwandlung eines Menschen in eine Leiche, die den Tod verkörpert hat. Kein Puls, keine Atmung, fahle und kalte Haut, einsetzende Verwesung… Diese Wahrnehmung des Todes war für jedermann offenkundig eindeutig und mit allen Sinnen erlebbar – endgültig und unzweifelhaft.

Zurück zu unserem Beispiel. Da liegt also ein regloser, aber warmer Mensch mit einem Pulsschlag im Bett, die Augen sind geschlossen, es sieht aus, als ob er schläft. “Das ist unerträglich, es ist absolut unzumutbar” weiß Roland Walther, der ganz klar sagt, als Angehöriger wüsste er nicht, wie er in diesem Moment reagieren würde. Als Arzt und Wissenschaftler sagt er aber klipp und klar und voller Überzeugung: “Das ist kein Mensch mehr, das ist ein Toter”. Wie schwer es Angehörigen fällt diesen Umstand zu akzeptieren, das hat er oft miterlebt. Die Reaktionen erreichen in ihrer Bandbreite jedes Extrem, dass man sich nur vorstellen kann. Eine Frau wollte aus dem Fenster springen, erinnert sich Roland Walther, eine andere hat ihn körperlich angegriffen. Allen zu eigen ist aber – und das sagt er mit ausdrücklicher großer Bewunderung und tiefem Respekt – dass sie am Erschöpfungspunkt dieses ersten emotionalen Peaks in sich gehen, sich zurückziehen und darüber nachdenken, wie es nun weitergehen kann. “Ein absolutes No-Go ist jeglicher Druck“, sagt Roland Walther. “Es ist in diesem Moment nur meine Aufgabe aufzuklären, nicht zu drängen oder zu überreden”. Wenn jemand aus dieser schmerzhaften, inneren Einkehr mit der Entscheidung zurückkehrt, die Organspende abzulehnen, dann ist das so. “Das habe ich als Arzt genauso hinzunehmen, das mache ich auch so”. Dennoch erzählt er, und das überrascht mich doch, sind die meisten am Ende bereit dazu. Wie schwer diese Entscheidung sein muss, kann ich nicht einmal im Ansatz erahnen, doch man möchte demütig den Hut ziehen, gar niederknien vor dieser Größe.

Auch für das medizinische Personal ist die gesamte Prozedur durch und durch hartes Terrain und emotional nur für die Stärksten zu bewältigen. Längst nicht jeder Mediziner, der dazu handwerklich in der Lage wäre, bringt auch das emotionale Rüstzeug dafür mit. “Es ist eine der größten Herausforderungen, die ich je erlebt habe“, bestätigt auch Roland Walther und meint damit nicht nur die Gespräche mit Angehörigen, sondern auch die Entnahme der Organe selbst. “Das ist eine hochkomplexe Operation, an der sehr viele Spezialisten beteiligt sind”. Bevor es überhaupt auch nur ansatzweise so weit ist, muss zuerst ohne jeden Zweifel der Hirntod festgestellt werden. Dies kann nur durch mehrere unabhängig voneinander agierende Mediziner erfolgen, einer davon muss unbedingt ein externer sein, von außerhalb des Krankenhauses. Für Roland Walther gibt es nur zwei adäquate Methoden um sicherzustellen, dass eine Rückkehr ins Leben absolut ausgeschlossen ist: Die Blutzirkulation im Gehirn muss komplett und irreversibel ausgesetzt haben oder das Elektroenzephalogramm (kurz EEG) darf keinerlei elektrische Aktivitäten mehr erfassen. Das genaue Prozedere unterscheidet sich von Land zu Land, am Ende muss aber die sichere Definition des Hirntodes gegeben sein.

Die Entnahme der Organe erfolgt dann über viele Stunden hinweg in einem speziell dafür eingerichteten Operationssaal. Für jedes einzelne Organ reist ein entsprechendes Team an Spezialisten aus der Region an, in der bereits der passende Empfänger dafür ermittelt wurde. Die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung ist dabei äußerst rar gesät. Während früher nur auf die Blutgruppe geschaut wurde, geht es heute darum, dass möglichst viele Antigen-Merkmale übereinstimmen, um spätere Abstoßungsreaktionen zu minimieren. So werden nacheinander alle, zur Spende freigegebenen Organe entfernt, das Herz ganz zum Schluss, denn es muss unbedingt bis zum letzten Moment schlagen. Ja, ein durch und durch grausames Bild, da gibt es nichts zu beschönigen. Dass der Körper unter der Entnahme leidet, kann Roland Walther aber aufgrund seiner Ausbildung und seiner Erfahrung komplett ausschließen. Leid, Schmerzen, Wahrnehmungen, Gefühle, das alles geschieht und entsteht im Hirn und das ist bereits lange zuvor gestorben. Entnommen werden meistens Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Leber – je nach Einwilligung und Eignung auch Knochen oder die Hornhaut.

Nach diesem Prozedere wird der Körper wieder hergerichtet, so gut es geht kosmetisch in einen Zustand versetzt, indem die Angehörigen sich davon verabschieden und ihn zu Grabe tragen können. “Das ist ungeheuer wichtig, das muss geschehen” insistiert Roland Walther und seine Stimme gewinnt voller drängender Überzeugung an Kraft und Fahrt: “Sie müssen den Körper tot gesehen haben, sie müssen ihn in diesem Zustand gesehen haben, indem er unzweifelhaft tot ist, um das überhaupt verarbeiten und begreifen zu können”. Welche Zumutung dieser gesamte Ablauf für die Angehörigen bedeutet, das kann der erfahrene Mediziner überhaupt nicht oft genug in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen: “Sie durchleben die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Punkt”.

Das Thema Organspende wird die Gesellschaft noch lange lange Zeit begleiten und niemals kalt lassen, niemals ohne emotionale und leidenschaftliche Diskussionen verlaufen. Große Begriffe wie Verpflichtung, Gerechtigkeit, Schuld und Scham werden dabei nur allzu oft inflationär gebraucht und bauen Druck auf, wo es ihn am wenigsten braucht. Es ist ein Thema, das sich nicht für Schüsse aus der Hüfte, für schnelle Meinungen oder Kommentare eignet. Es ist ein Thema, das, in welchen Auslegungen auch immer, niemals einen breiten gesellschaftlichen Konsens erzielen wird, so viel ist sicher. “Das geht überhaupt nicht anders, das wird immer so sein” weiß Roland Walther, an dem die intensiven Diskurse der unterschiedlichen Ausprägungen der Medizinethik nicht vorbeigehen. Diese Diskurse reichen von völliger Ablehnung der Organspende über scharfe Kritik an der Hirntod-Definition oder der Annahme des “justified killings” – des gerechtfertigten Tötens auf der einen Seite, bis hin zur aufgezeigten Alternativlosigkeit der Organspende im Zuge eines pragmatischen und gerechten Menschenbildes auf der anderen Seite.

Wo Sie sich in diesem sehr breiten Spektrum selbst positionieren, bleibt freilich Ihnen überlassen, liebe Leser. Es ist ihre höchst eigene, ihre intime Entscheidung, die es zu respektieren gilt. Sie müssen sich nicht dafür rechtfertigen, sie müssen sich keinem moralischen oder gesellschaftlichen Druck aussetzen. Es ist ihr Körper, ihre Entscheidung. Doch bitte – und ich denke hier spreche ich in Schulterschluss mit dem Mediziner Roland Walther – treffen Sie diese Entscheidung zu Lebzeiten. Bürden sie nicht anderen diese Last auf, schon gar nicht den Menschen, die ihnen am nächsten stehen.

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2 Gedanken zu „Die schlimmsten Stunden ihres Lebens“

  1. Wow! Selten habe ich einen solch differenzierten Artikel zu diesem äußerst Kontroversen Thema gelesen! Meinen höchsten Respekt, lieber Stephan Gilliar!

  2. Das schnürt einem beim Lesen schon die Kehle zu. Super Artikel, habt ihr beide toll gemacht. Ich habe ja die „Zigarette danach“ mitbekommen ;-)
    Grüße RR

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