Der Stille Tod der Werte

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Als Lokaljournalisten sind wir damit gesegnet nur in einem überschaubaren, kleinen Winkel unserer Welt agieren zu dürfen. Ein kleiner Mikrokosmos, eingebettet in einem unglaublich großen Gesamtbild, das gleichermaßen komplex, wunderschön wie auch grausam ist. Doch so fassbar unser Universum ist, blicken wir dennoch jeden Tag über den Tellerrand hinaus, sehen und anerkennen bewundernd was Kolleginnen und Kollegen überall auf der Welt leisten – entgegen aller Widerstände und Widrigkeiten. Auch wenn viele Menschen durch den beengten Horizont ihre eigenen Blase, ja ihrer eigenen Wirklichkeit, unserem Berufsstand oft jegliche Legitimation aberkennen, ist es doch einer der wichtigsten Berufe überhaupt. Richtig ausgeübt dient er dazu die Wahrheit zu Tage zu fördern, die wesentlichen Stränge in einem undurchdringlichen Dickicht zu finden, zusammenzuführen und für jedermann kenntlich zu machen. Doch wie sagte Christian Morgenstern: “Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger für sie reif ist.” Nun, liebe Leserinnen, liebe Leser, viele Menschen sind für die Wahrheit nicht bereit – schrecken auch vor Gewalt und Rechtsbruch nicht zurück um das zutage fördern selbiger zu verhindern.

1600 Journalistinnen und Journalisten wurden allein in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit aufgrund ihres Berufes getötet , fast 300 sitzen derzeit wegen ihrer Arbeit hinter Gittern, eine Zahl die niemals zuvor so hoch war. Doch geben Sie sich keiner Illusion hin, die Freiheit der Presse ist nicht nur in autoritären Staaten oder weit weg am anderen Ende der Welt in Gefahr. Sie steht auch bei uns unter Beschuss, in Europa, in Deutschland, um uns herum. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel, als unsere gemeinsamen Werte, das was uns Europäer verbindet, was uns ausmacht.

Ein Kollege, ein Journalist durch und durch, durchlebt derzeit auf europäischem Boden ein unsägliches Martyrium. Julian Assange, Gründer der Plattform Wikileaks, der sich einzig und allein zu schulden hat kommen lassen, unbequeme Wahrheiten ans Licht zu bringen, darunter schwere Kriegsverbrechen, verblasst gerade vor unser aller Augen. Seit vielen Monaten wird er in Isolationshaft im britischen Schwerverbrecher-Gefängnis in Belmarsh festgehalten, das auch als Guantanamo von Großbritannien bezeichnet wird. Weil er über seine Plattform Wikileaks geheime, militärische Dokumente veröffentlichte, darunter Berichte aus den amerikanischen Kampfeinsätzen in Afghanistan und im Irak, fordert die USA seine Auslieferung. Man muss es noch einmal ganz klar wiederholen: Julian Assange hat niemanden getötet, keinen Terroranschlag geplant, wie manche seiner Mithäftlinge… Julian Assange hat einfach die Wahrheit gesagt, hat sie bekannt und seinen Job als Journalist gemacht.

Anstatt ihn dafür aber zu achten, zu ehren, wurde er gejagt, ins Exil gedrängt und schließlich verhaftet und eingekerkert… nicht irgendwo, sondern hier bei uns – mitten in Europa. Seither wartet er, abgeschottet vom Rest der Welt und hofft. Hofft darauf, dass Großbritannien dem Auslieferungsgesuch der Vereinigten Staaten nicht stattgibt. Eine Hoffnung die nun jäh zerstört wurde, ironischerweise am selben Tag als in Oslo zwei Journalisten mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, am Tag der Menschenrechte, während des sogenannten “Gipfels der Demokratie.“ Ein Londoner Gericht beschließt den Weg für die Auslieferung Julien Assanges an die USA freizumachen, wo ihm wegen angeblicher Spionage bis zu 175 Jahre Haft drohen. Dies geschieht nahezu ohne jede echte Intervention der EU, der deutschen Bundesregierung, der breiten Öffentlichkeit…

Warum ich Ihnen dies hier, auf einer Plattform für Lokalnachrichten mitteile? Weil sie es wissen sollten! Weil es ein Angriff auf unsere Lebensweise ist, ein Schlag ins Gesicht unserer demokratischen Freiheitsordnung, der nicht einfach im medialen Rauschen dieser Tage untergehen darf.

Man kann sich kaum vorstellen, was dieser Mensch, dieser Journalist, hinter Gittern durchlebt. Der Stress und die Angst müssen übermenschlich sein. Nach mehreren Medienberichten soll Julian Assange im Gefängnis in Belmarsh einen Schlaganfall erlitten haben. Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter schrieb dazu über Twitter: UK is literally torturing him to death. – Großbritannien foltert ihn buchstäblich zu Tode. Nicht irgendwann, sondern heute. Nicht irgendwo, sondern mitten unter uns.

Hügelhelden.de-Herausgeber Stephan Gilliar im Dezember 2021

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