Herzenssache – Seit 30 Jahren untersucht Kardiologe Matthias Redecker Bruchsaler Herzen
Ein Portrait von Stephan Gilliar
65 Jahre will Matthias Redecker alt sein. Am liebsten würde ich ihn nach seinem Ausweis fragen, denn wenn er Mitte 60 ist, gebe ich mit meinen Mitte 40 keine gute Figur ab. Schlank, hochgewachsen, keine Falte im Gesicht… Der hat sich gut gehalten, würde meine Oma jetzt sagen. Na ja, das kommt natürlich nicht ganz von ungefähr. Matthias hält sich fit, treibt Sport auf einem Level, das mir nur ein ungläubiges Staunen zu entlocken weiß. Jedes Jahr fährt er mit seinen besten Freunden Roland und Thomas in eine Ecke der Welt, die nicht gerade in den Top Ten der Reiseveranstalter rangiert. Letztes Jahr haben die drei beispielsweise den Annapurna im Hochgebirge des Himalaya bestiegen, eine Gegend, in der sich nicht ohne Grund nur sehr wenige Menschen angesiedelt haben.
Was er einem 65-jährigen Patienten raten würde, der mit der Absicht an ihn heranträte in einem Alter, in der manch anderer sich in den Ruhestand verabschiedet, auf 5500 Metern Höhe in dünner Luft Hochleistungssport absolvieren zu wollen, will ich von Matthias wissen? Da muss er lachen, zwinkert und streckt mir feixend seine Kuchengabel entgegen.. eine Antwort bekomme ich aber doch. Nicht aus dem Stand heraus, würde er seinem Patienten raten, aber wenn das sein Traum ist, warum nicht?! Und dann sagt er etwas, das für einen Mediziner nicht gerade prototypisch ist: „Das Wichtigste ist nicht die Gesundheit, das Wichtigste ist Zufriedenheit. Jeder hat sein eigenes Risiko. Der eine raucht, der andere klettert über vereiste Gebirgspässe.” Er wisse genau, dass er dabei abstürzen, sich schwer verletzen und zu Tode kommen könne, dennoch breche er jedes Jahr erneut zu einer solchen Tour auf, erklärt Matthias mir seine Philosophie. Klar, könne man alle Risiken minimieren, auf alles verzichten und dafür mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein biblisches Alter erreichen, aber wäre es das auch immer wert? “So macht das Leben doch keinen Spaß” stellt er fest und beißt beherzt in seinen Apfelkuchen.
Fair ist das Leben leider nicht, das weiß jeder Mediziner, das weiß einjeder von uns. Manche bekommen erbseitig bedingt nicht gerade die besten Anlagen mit auf den Weg, andere kommen aufgrund ihrer Lebensumstände hin und wieder in schwierige Situationen, und wieder andere erkranken schwer – manchmal ohne erkennbare Ursache. Ja, man muss mit den Karten spielen, die man ausgeteilt bekommen hat, da hilft kein Weg dran vorbei. Dabei kann man mehr erreichen, als man vielleicht denkt, sagt Matthias und erzählt mir die Geschichte eines 78-Jährigen Patienten, den er einst betreut hat. “Ein Bär von einem Mann, ein gestandener Bauer“, erinnert er sich. Er kam nach einem schweren Herzinfarkt in seine Praxis, war völlig am Ende, sein Körper hatte sich schon fast zur Gänze abgebaut. Im Grunde galt es für ihn, nur noch zu Hause auf den Tod zu warten. Dennoch fragte ihn Matthias: “Was würden Sie denn gerne noch einmal machen?” “Ich würde so gern noch mal Bulldog fahren“, sagt der Mann wie aus der Pistole geschossen und Matthias schwört, dass es sich genauso ereignet hat. Es fällt nicht schwer sich auszumalen, wie viele Ärzte reagiert hätten. “Lassen Sie es bleiben, das hat keinen Wert mehr”. Nicht so Matthias. Er ermunterte den Mann zu Bewegung und Rehasport und tatsächlich…am Ende konnte der Landwirt glücklich noch eine Zeit lang auf dem Sattel seines alten Schleppers sitzen. Vielleicht wären es ein paar Tage mehr gewesen, hätte er seine letzten Wochen in einem Krankenhausbett zugebracht, doch man darf sich sicher sein, das war das Ende, das sich der Mann gewünscht hat. “Du musst an Dich und das Beste glauben und auch wenn es ein großer Scheiss ist, das Beste daraus machen” ist sich Matthias sicher und verleiht seinen Worten mit ernstem Blick Nachdruck.
Seit Matthias zurückdenken kann, wollte er Arzt werden. Schon sein Vater hat diesen Beruf mit viel Leidenschaft ausgeübt, war früher Chefarzt in der Fürst-Stirum-Klinik in Bruchsal. Als kleiner Bub durfte Matthias ihn manchmal mit zur Arbeit begleiten, wartete auf den Vater in dessen Büro, wenn er auf Visite war. Highlight für ihn war der Getränkeautomat, aus dem er sich eine Fanta ziehen durfte… die Freuden der Kindheit müssen eben nicht groß sein.
Ein Ehrgeizling war Matthias aber nicht – in der Schule hatte er sogar ziemliche Hängepartien durchzustehen. In der achten Klasse am Schönborngymnasium Bruchsal stand sogar schon die Versetzung in Frage. Am Ende hat es dann aber doch für ein passables Abi und ein Medizinstudium gereicht. Letzteres übrigens im Dienste der deutschen Bundeswehr, denn vom Erreichen des damals wie heute hohen Numerus Clausus war Matthias doch eine ganze Kante entfernt. So verpflichtete er sich als Soldat, diente nach dem Studium an mehreren Bundeswehrstandorten in den medizinischen Einrichtungen der Truppe, darunter in Wildbad und Ulm.
1994, vor knapp 30 Jahren, eröffnete Matthias schließlich eine eigene Praxis in Bruchsal. Kardiologie sollte der Schwerpunkt sein, doch viele Kollegen vor Ort rieten ihm davon ab, einen Kardiologen würde es in Bruchsal schlicht nicht brauchen. So kaufte sich Matthias ein Gastroskop und führte unzählige Magenspiegelungen durch, kehrte am Ende dann aber doch zu seiner Wunschausrichtung – der Kardiologie – zurück. Eine echte Herzensangelegenheit könnte man sagen, verzeihen Sie das Wortspiel. Heute ist die kardiologische Praxis von Matthias, die er zusammen mit vier weiteren Ärzten als Gemeinschaftspraxis führt, in Bruchsal längst eingeführt. Zwischenzeitlich finden sich die Räumlichkeiten im Friedrichspalais und der Terminkalender ist gut gefüllt.
Wie es mit der Praxis in Zukunft weitergehen wird, das lässt sich schwer vorhersagen. Die Ansprüche der jungen Ärzte hätten sich doch über die Jahre ziemlich verändert, erzählt Matthias. Partner möchte kaum noch jemand werden, in Anstellung arbeitet der medizinische Nachwuchs am liebsten. Mit fest geregelten Arbeitszeiten, mit Focus auf die Work-Life-Balance, weniger auf den Verdienst. Mit dem Begriff hadert Matthias etwas, schließlich bliebe nach 8 Stunden Arbeit und 8 Stunden Schlaf nach dieser Maxime kaum noch etwas für das “Leben” übrig, wenn man es so strikt vom Rest des Alltags abtrennen würde. Ein Arzt, wie sein Vater es war, der sich 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche für seine Patienten erreichbar hielt, will er aber auch nicht sein. Schließlich hat Matthias noch viel vor, plant sogar aktuell zusammen mit Roland und Thomas sein nächstes Projekt: Eine Fahrt mit dem Mountainbike über den Manali-Leh-Highway, eine der höchsten Straßen der Welt.
Das sind knapp 500 Kilometer, die mitunter über die höchsten befahrbaren Bergpässe unseres Planeten führen, für mich klingt das schon vor dem Planungsbeginn zu anstrengend, um überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Für Matthias ist es aber Berufung, Liebe und Faszination. Etwas, das ihn leben lässt…nicht unbedingt länger, aber dafür viel erfüllter.
Und genau darum geht es.
Der gute Redecker Senior ist mir wohl bekannt. Mit einer sehr schmerzhaften Nierenbeckenentzündung war ich bei ihm im Bruchsaler Krankenhaus in Behandlung. Zuerst ambulant, später dann auch staionär. Er war ein sehr freundlicher Mann. Im Wartezimmer hing ein Schild mit der Aufschrift: Der Aufruf erfolgt nach ärztlichen Gesichtspunkten..