In einem alten Brettener Gewölbekeller nimmt Tutti ihre Gäste mit auf eine Reise nach Vietnam
Thăng Long, so nannten die Menschen früher einmal das heutige Hanoi. Der Name steht für „aufsteigender Drache“, denn der Legende nach soll ein solcher sich genau an jener Stelle in den Himmel erhoben haben, als sich Kaiser Lý Thái Tổ nach einem geeigneten Platz für seine neue Hauptstadt umsah. Hanoi hat seitdem viele Kosenamen erhalten, zum Beispiel das „Herz Vietnams“, das „Paris des Ostens“, die „Stadt der Seen“, aber auch die „Stadt der 1000 Jahre“. Spätestens jetzt haben wir den Bezug zu unserem alten Brettheim, das Hanoi allerdings noch einmal stolze 250 Lenze überlegen ist.
Von Zwickau nach Bretten – Der Weg einer Powerfrau
Hier lebt und arbeitet seit einigen Jahren Thu Hà Nguyen, die sich allerdings lieber Tutti nennt. Das klingt irgendwie süß, und auf den ersten Blick wirkt Tutti auch ganz zart besaitet, bei näherem Hinschauen entpuppt sie sich jedoch als absolute Powerfrau.
Geboren wurde sie Anfang der Neunziger in Zwickau als Tochter zweier vietnamesischer Gastarbeiter, angeworben von der damaligen DDR-Regierung. Hintergrund war ein Anwerbeabkommen, das unter Erich Honecker mit Vietnam ausgehandelt wurde, wonach schätzungsweise 60.000 bis 80.000 Vietnamesen vorübergehend als Vertragsarbeiter in der Deutschen Demokratischen Republik eingesetzt wurden. Anders als beim Gastarbeiterprogramm der BRD in den sechziger und siebziger Jahren waren die Bedingungen des Aufenthalts jedoch äußerst hart. So wurden die vietnamesischen Gastarbeiter vom Rest der Bevölkerung isoliert, unter Druck gesetzt und in ihren persönlichen Freiheiten stark eingeschränkt. Es war ihnen beispielsweise strengstens untersagt, Kinder zu bekommen.

So kam es, dass nach der Wende und dem Fall der Mauer viele der Gastarbeiter-Familien die Gunst der Stunde nutzten und sich endlich den lang gehegten Kinderwunsch erfüllten, darunter auch Tuttis Eltern. So kam Thu Hà 1992 auf die Welt – übrigens genau in jenem Jahr, als Rechtsextreme den feigen Angriff auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen und die darin lebenden einstigen vietnamesischen Gastarbeiter verübten. Dennoch blieb Tuttis Familie im Osten und ließ sich in Zwickau nieder. Den Eltern war es wichtig, dass die Kinder eine gute Ausbildung genießen. Während Tuttis einer Bruder heute bei der Bundespolizei arbeitet, studiert ein anderer Pharmazie. Auch Tutti absolvierte in Halle an der Saale bis 2019 einen Masterstudiengang in Betriebswirtschaftslehre. Kleiner Funfact am Rande: Der Bezirk Halle-Neustadt wird von den Einheimischen spielerisch Hanoi bzw. HaNeu genannt. Aus Hanoi oder vielmehr einem kleinen Dorf direkt daneben kamen Tuttis Eltern in den achtziger Jahren nach Deutschland – so schließt sich dieser Kreis. Und noch eine nette kleine Anekdote: Die beiden lernten sich tatsächlich erst in der DDR kennen und stellten dort zu ihrer Überraschung fest, dass sie aus der gleichen Region in Vietnam stammen.
Vom Hundle zum Hanoi – Tuttis kulinarisches Reich
Doch zurück nach Bretten. Hier lernte Tutti vor einigen Jahren ihren Lebensgefährten kennen, einen Deutsch-Vietnamesen, der in der Stadt zusammen mit seinem Bruder nicht nur ein, sondern gleich zwei asiatische Restaurants betrieb beziehungsweise betreibt. Das Saigon gibt es noch immer; früher war es einmal direkt am Marktplatz, jetzt findet man es unterhalb des Brettener Kinos. Das Luna, als Nachfolger des Brettener Hundles in der Melanchthonstraße, wiederum ist zwischenzeitlich Tuttis Reich.

Vor gut einem Jahr hat sie es von den beiden Brüdern übernommen, um hier die richtige und authentische vietnamesische Küche zuzubereiten. Denn – und das ist ihr wichtig – viele der gastronomischen Angebote in Deutschland, die sich vietnamesische Küche auf die Fahnen schreiben, kochen im Grunde nur eine Interpretation derselben, angepasst an die deutschen Bedürfnisse. Das sei viel mehr an die chinesische Küche angelehnt und habe im Grunde mit den klassischen Gerichten, die es im Norden Vietnams gibt, kaum etwas gemein, erzählt Tutti, die ihre Rezepte direkt von ihren Eltern Mẹ Hồng und Bố Nhân übernommen hat. Von den beiden erzählt sie sehr liebevoll und wertschätzend, und auch auf der Speisekarte ist der erste Absatz eine persönliche Danksagung an ihre Eltern.
Eine Reise ins kulinarische Vietnam
Wer bei Tutti im Hanoi speist, der bekommt nicht nur gute vietnamesische Hausmannskost nach alter Väter- oder Mütter-Sitte, sondern auch gleich die passenden Erläuterungen dazu. Denn für einen Anfänger ist es gar nicht so leicht, sich mit den servierten Schüsseln, Tigeln und Flaschen zurechtzufinden. Eine Sauce wird beispielsweise kreisförmig aufgetragen, Zutaten darüber gestreut, nach Fingerspitzengefühl gewürzt, getunkt, gedippt oder was auch immer das Wunschgericht erfordert.



Während sich die Breddemer mit diesen ganz neuen kulinarischen Erfahrungen am Anfang noch etwas schwer taten, ist mittlerweile der Laden fast an jedem Abend voll. Besonders an den Wochenenden empfiehlt es sich unbedingt, vorher einen Tisch zu reservieren. Wer einen ergattert, der erlebt aber mit hoher Wahrscheinlichkeit einen richtig schönen Abend.
Vietnam im Gewölbekeller
Monatelang hat Tutti das kühl und dunkel gehaltene Luna auf ihre Art und Weise umgestaltet, um im alten Gewölbekeller des früheren Hundles ein Stück Vietnam aufleben zu lassen. Alles ist in warmen Farben und Tönen gehalten: Es gibt viel Holz, Bambus, gefaltete Ornamente, Lichter und auch den einen oder anderen gütig lächelnden Buddha. Von der pagodenartigen Bar aus kann Tutti ihr kleines Reich überschauen, sieht, was sich ihre Gäste wünschen, wo vielleicht noch Bedarf nach Erläuterungen zu den exotischen Speisen auf ihrer Karte besteht.

Ansonsten mixt sie hier Cocktails. Ein paar Dutzend davon hat sie im Angebot, insbesondere fruchtige und frische mit ganz viel Litschi, Limette oder frischer Minze – so wie man sie auch in Vietnam trinken würde.
Ein Ort zum Wohlfühlen
13 Tische gibt es hier unten im Keller; bei schönem Wetter stehen oben auf der Gass‘ noch 15 weitere zur Verfügung. Besonders in den Sommermonaten ist das Hanoi ein echter „Place to be“ in Bretten, das ohnehin eine tolle Ausgeh-Kultur zu bieten hat.


Auch wenn Tutti als gastronomische Quereinsteigerin und Autodidaktin in den letzten Monaten schwer zu rödeln hatte – beständig klingelt auch während unseres Gesprächs das Handy, kommen Anfragen oder Nachrichten herein – hat sie doch Spaß an ihrer eigenen Neuerfindung. Hinter vorgehaltener Hand denkt sie auch bereits über eine Vergrößerung des Hanoi nach. Noch ist es aber nicht so weit, und wer jetzt, vielleicht als kurze Auszeit im trüben und grauen Kraichgauer Winter, einen kleinen Trip in die Ferne unternehmen möchte, dem können wir ein Kennenlernen mit dem aufsteigenden Drachen und Powerfrau Tutti nur ans Herz legen.
Man sollte eventuell den Namen des Lokals richtig benennen: Hanoi Village.
Denn unter „Luna“ wird man es nicht finden..
Das Speisenangebot klingt auf jeden Fall interessant und steht auf meiner ToDo Liste