Die Generation Corona und das mieseste Abi aller Zeiten
Eine Beileidsbekundung von Stephan Gilliar
Da flattern sie wieder in den feucht-kalten Mai-Winden, des sich ungeheurer Beliebtheit erfreuenden Jahres 2021. Die vielen bunt verzierten Leintücher an den Gymnasien, landauf und landab im Kraichgau, mit denen Verwandte und Freunde den diesjährigen Abiturienten Glück und Mut zusprechen. Knapp 12.000 Schüler kämpfen sich alleine im Landkreis Karlsruhe durch Goethes Faust, Kurvendiskussionen und all den anderen Kram, den man exakt 25 Sekunden nach Ablegen der Prüfung wieder (zurecht) vergessen hat. Was danach kommt, ist unter normalen Umständen einfach nur großartig. Das Glücksgefühl der bestandenen Schulzeit, die weit vor einem liegende Zukunft als offenes und grenzenloses Land und nicht zu vergessen Abipartys, die Abireise, der Abiball, den einen oder anderen Shot über den Durst und das was Doktor Sommer mit Liebe, Sex und Zärtlichkeit zusammenfasst.
Ich erinnere mich vage an mein Abitur anno 1999, weshalb wir uns damals großspurig auch als die „Krönung des Jahrtausends“ bezeichneten. Ich weiß noch, wie wir uns nach der letzten Prüfung eine dieser billigen Zigarren von der Tankstelle angesteckt haben, mit einem Schlauchboot voller ebenso billigem Bier über den Comer See gefahren sind und wie ich, nach einer dem Abiball folgenden, nebulösen Nacht, am nächsten Morgen versucht habe (immer noch im Smoking) ein Rezept für die Pille danach aufzutreiben. Es sind herrliche Erinnerungen, von denen besonders eine – die eigentlich vielmehr ein Gefühl ist – deutlich heraussticht: Freiheit – pure, unverdünnte, süße Freiheit.
Liebe Abiturienten von 2020 und 2021, all diese wohlverdienten Errungenschaften und Belohnungen nach Wochen und Monaten der Entbehrung, bleiben euch verwehrt und das tut mir unendlich und aufrichtig leid für euch. Ihr habt die schwersten Abiturprüfungen absolviert, die in diesem Land seit vielen Jahrzehnten absolviert wurden. Ihr konntet euch nicht angemessen darauf vorbereiten, hattet Unterricht, der bestenfalls als Flickenteppich bezeichnet werden kann. Ihr seid bereits ohne aufgeladene Batterien, belastet mit den Widrigkeiten der Wirren der Pandemie in eure Prüfungsphase gestartet und habt damit mehr geleistet als eine erkleckliche Anzahl an Abiturienten-Generationen vor euch. Wenn es nach mir ginge, würdet ihr und jeder andere Prüfling in Corona-Zeiten, mit einer pauschalen 1.0 ins Leben entlassen werden. Das wäre das Mindeste was Euch unsere Führungsriege, die in den letzten Monaten deutlich demonstriert hat, wie viel Wertschätzungen sie Jugend und Bildungswesen im Vergleich zu Alter und Wirtschaft einräumt, zugestehen könnte.
Ich bitte euch nur um eines: Wenn dieser ganze Mist ausgestanden ist, wenn Corona in die Knie gezwungen und unser Alltag wieder hergestellt wurde…. Holt alles, aber auch alles nach. Hakt die Zeit nicht als verloren ab, geht nicht gleich zur Tagesordnung, ins Studium oder in die Ausbildung über… Feiert, seid jung, benehmt euch unmöglich, lasst es krachen, bereist die Welt und achtet nicht auf das missbilligende Raunen aus den Reihen der grauen Eminenzen. Für Rationalität ist später noch genug Zeit, das Universum schuldet euch etwas und Ratenzahlung is nich.
Ich kann dem nur zustimmen!
Was die Politik sich hier unter dem Deckmantel der Aussage „Ja denkt denn niemand an die Kinder“ und „Prüfungen müssen wegen der Vergleichbarkeit“ sein erlaubt hat, ist milde gesagt ein Trauerspiel, welches seinesgleichen sucht.
Ich bedauere die aktuellen Schüler, weiß aber auch, dass viele Lehrer das ebenso sehen und bei den Prüfungen sicherlich nicht den politischen Maßstab anlegen werden.