Am grauen Strom

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Wie es ist, nur einen Steinwurf von einer dicht befahrenen Bundesstraße entfernt zu leben

Bevor ich an dem vermutlich einst weißen Haus mit der heute ruß-ergrauten Fassade klingle, lasse ich die Szene zuerst ein paar Momente auf mich wirken. In einem endlosen Strom rasen Autos und schwere Lkw an mir vorbei, kaum eine Lücke zeigt sich im dichten Feierabendverkehr an diesem Freitag Nachmittag. Ein beständiges, nie endendes Dröhnen, ein Rumpeln, das Quietschen von Druckluftbremsen… an die Kakophonie des Verkehrs könnte sich mein Ohr vermutlich niemals gewöhnen. Wie Menschen eine solche Belastung aushalten können, ist mir persönlich ein Rätsel. Eine Frage, die ich mir beispielsweise jedes Mal dann stelle, wenn ich den abschüssigen Streckenabschnitt der A8 bei Pforzheim passiere und rechts und links – an den Berghang gedrängt – die vielen Wohnungen und Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft zur Autobahn sehe.

Die Menschen hier in Helmsheim leben noch dichter am Verkehr, als jene an der A8. Teilweise trennen nur zwei Fußschritte ihre Haustüren vom Fahrbahnrand der Tag und Nacht rege genutzten Bundesstraße 35. Der Gehweg dazwischen ist teilweise so schmal, dass die Zugluft vorbeifahrender Lastwagen, Jacken und Rocksäume hochwirbeln. Ich möchte mehr über das Leben an der B35 in Helmsheim wissen und klingle an der Hausnummer 19, im Rücken das Brausen des grauen Stroms. Schon nach wenigen Augenblicken öffnet mir ein älterer Herr, der so gediegen und adrett gekleidet ist, dass man sich einem Staatsmann aus den goldenen Zwanzigern gegenüber wähnt. Ein klassischer Einreiher über einem blütenweißen Hemd und einer Cordweste, dazu die Uhrenkette und das feine Einstecktuch. Die wachen und aufmerksamen Augen blicken durch eine filigrane, randlose Brille, ein gepflegter Moustache flankiert das freundliche Lächeln.

Bild: Privat / Familie Baumgärtner

Willi Baumgärtner lebt seit bald 20 Jahren in der Maulbronner Straße Nummer 17, dem ehemaligen Bauernhof der in den 60er Jahren ins nahe Dossental ausgesiedelten Familie seiner Frau Lina. Bis 2014 war Willi evangelischer Pfarrer und Religionslehrer, hat in den Jahrzehnten seines Berufslebens die badische Heimat vom tiefsten Süden bis in den hohen Norden kennengelernt. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Heddesheim, kam dann mit 16 Jahren bei einer Zeltevangelisationen zum Glauben und entschloss sich daraufhin, in Heidelberg und Tübingen evangelische Theologie zu studieren. Die Zeit seines Vikariats glich einer kleinen Odyssee, gleich viermal wurde der junge, angehende Pfarrer versetzt. Zuerst von Eisingen nach Eberbach, dann nach Müllheim in Südbaden und schließlich nach Bruchsal. Seine erste Gemeinde war schließlich Steinen im Landkreis Lörrach, hier war er über 10 Jahre lang Pfarrer. Danach führte ihn sein Weg nach Großeicholzheim, einem Ortsteil der Gemeinde Seckach, wo er ein weiteres Jahrzehnt lebte und wirkte. Bis zu seinem Ruhestand lehrte er schließlich Religion, unter anderem in Pforzheim.

Während seiner Zeit in Bruchsal lebte er zur Miete in einer kleinen Wohnung in Heidelsheim. Seine Vermieterin damals war die Cousine von Linas Vater, die er auf diesem Wege kennen und alsbald auch lieben lernte. Die beiden heirateten Ende der 80er Jahre und bekamen gemeinsam drei Töchter. Während Willi mit den regelmäßigen Ortswechseln gut zurecht kam, war die Trennung von Freundeskreis und gewohntem Umfeld für seine Töchter nicht so einfach. Mit dem Ruhestand beschloss die Familie, sich daher dauerhaft niederzulassen und wählte das damals verfügbare und leerstehende Haus von Linas Familie in Helmsheim. Nach den ruhig und ländlich gelegenen Pfarrhäusern der Jahre zuvor, war der neue Standort und seine Lage direkt an der Bundesstraße zunächst – sagen wir – gewöhnungsbedürftig. Das Rauschen Tag und Nacht, insbesondere in den oberen Stockwerken der Kinder, war kaum zu ignorieren. Der Einbau von Schallschutzfenstern brachte zwar eine gewisse Erleichterung, doch selbst im Sommer im rückwärtig gelegenen Hof des Anwesens blieb der beständige, graue Strom niemals außen vor. Willi nahm es pragmatisch…”Es war eine Umstellung, aber nicht gravierend“, zieht er ein Resümee der ersten Zeit an der B35.

Beschäftigt hat ihn die Straße über all die Jahre dennoch. Durch die bei jeder Sanierung zusätzlich aufgetragene Asphaltdecke wuchs die Fahrbahn immer weiter in die Höhe, so dass die kleine Treppe zur Haustür anfangs noch drei Stufen, später noch zwei und schließlich nur noch eine Stufe hatte. Durch mangelhafte, seitliche Abschlüsse der Fahrbahn flossen zudem beständig durch Streugut salzhaltige Abwässer in den Garten der Familie, ließen dadurch den eisernen Zaun komplett durchrosten. Mulmig konnte es den Eltern auch bei den Versuchen der Kinder werden, die dicht befahrene Straße zu überqueren. Gemeinsam mit mehreren Nachbarn setzte man sich schließlich für den Bau einer Bedarfsampel ein, die am Ende auch genehmigt und realisiert wurde.

Eine weitere Episode, die Willi ein leichtes Stirnrunzeln entlockt, war die Aufstellung der Blitzanlage direkt vor seinem Haus. Zuerst postierte die Stadt das Gerät – laut Willi ohne jede Absprache – einfach im Garten der Familie. Ein Fehler, der nach entsprechenden Einsprüchen korrigiert wurde. Heute steht der Blitzer, der nach Willis Beobachtung erst viel zu spät auslöst, ein paar Meter weiter an der Straße.

Auch wenn der Verkehr über all die Jahre immer weiter zugenommen hat, hat Willi mit der Straße selbst seinen Frieden geschlossen. Schließlich gab es diese schon, lange, lange, vor seiner Zeit. Schon im 16. und 17. Jahrhundert führte hier eine bedeutende Passage entlang, ein Teil der Verbindung von Stuttgart Richtung Paris, erzählt er. In beiden Weltkriegen seien auf ihr die Soldaten zur Front marschiert und Jahre später geschlagen darauf zurückgekehrt, führt er weiter aus und zeigt auf dem Computer ein paar eingescannte historische Aufnahmen aus dem Fotoalbum der Familie. Sie zeigen unverkennbar das eigene Wohnhaus mit seiner charakteristischen Form, davor die Straße, bestehend aus reiner Erde, nicht asphaltiert und auf ihr Gespanne aus hölzernen Wägen und Pferden davor.

Zur Bundesstraße wurde sie erst nach der Gründung der Bundesrepublik 1949, führte damals noch durch den Ortskern von Heidelsheim, über den Berg und durch einen Hohlweg, bevor sie ausgebaut und ins benachbarte Tal verlegt wurde. Im Laufe der Jahre wurde sie immer wichtiger für den Transitverkehr, sollte ursprünglich sogar einmal zur Autobahn 80 ausgebaut werden. Ein Projekt, das eingestellt wurde und nun in den Augen mancher Kritiker – kaschiert als Kombination der geplanten Ortsumfahrungen von Bruchsal, Bretten und Bauschlott – reaktiviert werden könnte. Dass der Verkehr auf der B35 zunimmt, steht für Willi und seine Familie außer Frage, sie erleben es Tag für Tag hautnah. “Bald sollen auf der gegenüberliegenden Straßenseite Lärmschutzwände installiert werden, das macht uns Sorgen, da diese den Verkehrslärm noch zusätzlich in unsere Richtung reflektieren könnten”, befürchtet der pensionierte Pfarrer.

Opa Willi und Enkel Noah

Wegziehen ist für die Familie aber keine Option – zu oft wurden schließlich die Wurzeln an vorherigen Stationen schon gekappt. Auch für Noah, Willis zwölfjährigen Enkel, ist ein Umzug kein Thema. Ihm gefällt es sehr gut hier in Helmsheim, hier ist er zu Hause, hier sind seine Freunde, hier ist er Teil des Dorflebens – engagiert sich auch in der Jugendfeuerwehr. Mit Mama, Papa, Oma und Opa unter einem Dach zu wohnen, das findet er ohnehin klasse.

Ob denn die B35 doch zuweilen an seinen Nerven nagt, das wollen wir am Ende nun doch einmal ganz konkret von Willi wissen? “Ja wissen Sie, wenn ich im Arbeitskittel auf meinem alten Lanz von der Gottesau nach links abbiegen will und es mal wieder länger dauert” sagt er verschmitzt und lässt am Ende doch noch sympathisch den Wahl-Helmsheimer durchblicken, “..dann denke ich mir manchmal schon – sie verzeihen – oh, die bleede Schdroos”.

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8 Gedanken zu „Am grauen Strom“

  1. Toller Beitrag – sehr reflektiert ohne “Bashing” – toller Mann – diese Gelassenheit wünsche ich mir auch

  2. Super, Willi, dieser Bericht! Ich freue mich, dass ich dich schon seit 1977 vom Studium in Tübingen kennen darf! Gott segne Dich, Dein Lothar Gassmann aus Pforzheim

    • Lieber Lothar! Schön, daß du ihn auch gelesen hast! Ich habe mich herzlich gefreut, daß man sich für unsere Probleme interessiert hat und auch ein Journalist geschrieben hat, der sehr freundlich und ohne Voreingenommenheit berichtet. uch Dir herzliche Segenswünsche! Willi

    • Lieber Lothar, ich freue mich, daß du den freundlichen und sachlichen Artikel auch gelesen hast! Mit Segenswünschen Willi

      • Nichts destrotrotz: ein Skandal, dass es so etwas überhaupt gibt!
        Ich könnte und wollte da nicht wohnen. Die Situation spiegelt doch auch die Verantwortungslosig- und Untätigkeit des Staates und seiner Verwaltungen wieder!
        Ich wünsche Euch allen vor Ort Geduld und Gesundheit!!!

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