Am Ende des Kaninchenbaus

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Die Odenheimer Legende endet – Oma Schorles Haus der 1000 Dinge schließt für immer

Da kommt sie die drei steinernen Stufen hinauf, die von unzähligen Füßen über unzählige Jahrzehnte hinweg schon speckig und abgetreten sind. Ganz vorsichtig und behutsam, in zaghaften, kleinen Schritten, betritt sie das kleine Büro über dem Laden, lässt sich seufzend in den alten Ohrensessel gleiten. Das Gehen mag ihr zwischenzeitlich schwerfallen, doch hinter ihren graublauen Augen wohnt ein lebendiger und wacher Geist. Lotte Brendle-Schorle, Odenheimerin von Geburt an, die wohl älteste Geschäftsfrau im Kraichgau, sieht derzeit ihrem 95. Geburtstag entgegen und erinnert sich immer noch an alles – und zwar wirklich an alles. Sie weiß noch genau, dass ich bei meinem letzten Besuch vor sechs Jahren einen Eimer Bootslack und einen Reifen für den Schubkarren gekauft habe … das weiß sie so klar und ohne jedes Zögern, wie sie noch weiß, welche Wandfarbe eine Kundin vor über 60 Jahren für ihr Wohnzimmer ausgesucht hat. „Früher hat sie bei der Buchhaltung alle Lieferscheine selbst geschrieben, wusste bei jedem einzelnen Kunden die genaue Adresse“, erzählt Ullrich, ein stämmiger Odenheimer, der heute Vormittag in den endlosen Regalreihen stöbert, fast schon ehrfürchtig und bewundernd kopfschüttelnd.

Es dürfte niemanden in Odenheim geben, der Oma Schorle und ihr Haus der 1000 Dinge nicht kennt. Lotte ist im Dorf Legende, lebende Geschichte und ein unsterbliches Odna´ Original. Ihre Geschichte ist eng mit Odenheim verwoben. Seit 1929 gibt es den Laden am Ende der Nibelungenstraße. Ursprünglich als Spedition gegründet, verlegte sich Lottes Vater Anton schon nach kurzer Zeit auch auf den Handel mit Baustoffen, baute das Angebot immer weiter aus, bis es sich nicht mehr hinter dem Sortiment großer Baumärkte verstecken musste. „Die späten Vierziger und die Fünfziger, das waren goldene Jahre“, erinnert sich Lotte an jene Tage, an denen ein vom Krieg verwüstetes Land wieder auf die Füße fand. Alle blickten nur nach vorne, alle krempelten die Ärmel hoch und packten an, es wurde gebaut, es wurde geschafft und erschaffen. Kurzum, es war genau die richtige Zeit für einen Baustoffhandel. Immer größer wurde der Anton Adolf Schorle & Co. Fachhandel, wuchs nicht nur im Umsatz, sondern auch vor Ort. Irgendwann kauften die Schorles ein Stück des Werksgeländes der dahinterliegenden Boligwerke, erweiterten die Verkaufsfläche Stück für Stück.

Diese damalige Größe lässt sich auch heute noch im riesigen Labyrinth von Oma Schorles Laden eindrücklich erleben. Egal, wo man geht oder steht, immer öffnet sich durch einen Korridor oder einen Durchgang ein weiterer Raum, erschließt sich eine neue Ebene. Wer sich einmal in diesen Kaninchenbau hineinverirrt hat, der findet so schnell nicht mehr hinaus … und will es auch gar nicht. Denn genau wie bei Alice im Märchen ist dieser kuriose Laden ebenso ein einziges Wunderland. Hierhin kommt man nicht, um etwas zu finden, hierhin kommt man, um etwas zu suchen. Man stöbert, man entdeckt, man staunt – überall die vielen Dinge, die sich auf den drei Etagen und in den mit endlos langen Regalreihen gesäumten, tunnelartigen Gängen über all die Jahre angesammelt haben. Das Sortiment in Oma Schorles Reich zu umreißen, ihr Angebot aufzulisten, würde keinen Sinn machen, denn es lässt sich mit einem einzigen Wort perfekt beschreiben: Alles. Hier gibt es schlicht und einfach alles, was man sich nur vorstellen kann. Von A wie Amboss über Blechschrauben, Chamäleon-Tapete, Drahteselzubehör, Einhorn-Kerzenhalter, Feuerlöscher, Gartenzwerg-Solarleuchten, Handschuhwärmer, Insektenhotels, Jalousieklammern, Katzenklappen, Laubbläsern, Mörtelrührern, Nagelsortimenten, Ofenrohren, Pinselsets, Quarzsand, Rattenfallen, Schubkarrenreifen, Teichfolien, Unkrautbrennern, Vogelfutterstationen, Wurzelbürsten, Xylophonen für Kinder, Yoga-Blöcken bis zu Zäunen aus Zedernholz – hier gibt es einfach alles!

Und Oma Schorle? Die weiß nicht nur, was sie alles hat, sondern wo sich das alles auch finden lässt. Welche unglaubliche kognitive Leistung das voraussetzt, versteht vollumfänglich nur der, der schon mal diesen Laden von innen gesehen hat. Ich übertreibe kein bisschen, nicht auch nur im Geringsten, wenn ich Ihnen sage, dass Sie hier Stunden über Stunden zubringen können, ohne jemals alles gesehen zu haben, was dieses verrückte Labyrinth feilzubieten hat. Dieser kleine Mikrokosmos innerhalb von Odenheim, hinter einer Fassade, die diese Vielfalt nicht im Ansatz vermuten lässt, ist Lotte Brendle-Schorles ganze Welt. Sie hat jeden Posten, jeden Artikel selbst ausgesucht, selbst eingekauft. Ihr ganzes Leben lang ist sie eigens dafür auf große Fachmessen gefahren, egal ob in Köln, Frankfurt, Hamburg oder Hannover – sie hat gesucht, gestöbert und gegruschelt, damit ihre Kundschaft im Laden später genau das Gleiche tun kann.

Lotte Brendle-Schorle hinter ihrer Ladentheke – aufgenommen vor fünf Jahren

Fast 100 Jahre alt ist das Geschäft der Schorles in Odenheim, fast 100 Jahre auch die Inhaberin. Während sie von dieser Zeit erzählt, von all den Dingen, die sie gesehen und erlebt hat, klingelt hinter ihr immer wieder die kleine Glocke an der Wand, die anzeigt, wenn Kundschaft die Türschwelle überschritten hat. Im Moment noch etwas mehr, als es um diese Zeit eigentlich üblich wäre, denn gerade gibt es Rabatte von bis zu 50 % auf all die kleinen und großen Dinge in der ladengewordenen Unendlichkeit der Nibelungenstraße 81. Dieses glockenhelle Geräusch ist in den letzten Jahren jedoch immer seltener geworden, denn mit der Konkurrenz der großen Baumärkte in Bruchsal, Sinsheim oder Bretten konnte der kleine Familienbetrieb letztlich nicht wirklich Schritt halten. Dass Oma Schorle ihren Laden nun bald schließen wird, hängt aber weniger mit der wirtschaftlichen Lage zusammen, als vielmehr mit ihrem Alter. Verwundern dürfte das kaum, es ist schon mehr als außergewöhnlich, mit 94 Jahren noch immer jeden Tag zur Arbeit zu kommen, wenngleich in den letzten Jahren vor allem Lotte Brendle-Schorles langjährige und treue Mitarbeiter das meiste davon erledigt haben.

Fest steht aber, am 31. Dezember dieses Jahres, um Schlag 12:00 Uhr am Silvestertag, wird die kleine Glocke im Büro hinter der Kasse das letzte Mal einen Kunden mit ihrem fröhlichen Klingeln ankündigen. Dann wird Oma Schorle das letzte Mal die gläserne Flügeltür abschließen und in ihr kleines Wohnhaus nur zwei Straßen weiter zurückkehren. Denn nach ihr kommt niemand mehr. Ihr Mann ist längst gestorben, und ihr einziger Sohn erlag vor nur sechs Jahren viel zu früh einem viel zu spät erkannten Herzinfarkt. Wie das für sie sein wird, nach einem so arbeitsreichen Leben und mit 94 Jahren in den Ruhestand zu gehen? „I derf net dro denke“, sagt sie, und: „S´wird net leicht für mich.“ Den Heiligen Abend wird sie gemeinsam mit ihrer Pflegerin verbringen, am ersten Weihnachtsfeiertag geht sie traditionell mit ihren Mitarbeitern essen. Dass der Kontakt zu den beiden abreißen wird, das glaubt sie aber nicht, zu lang und zu tief sind die drei schon miteinander bekannt.

Für Odenheim aber geht in nur zwei Wochen eine Ära zu Ende, ein Buch, das sich nach so vielen Kapiteln für immer schließt. Auch wenn Oma Schorles Haus der 1000 Dinge wie aus der Zeit gefallen wirkt, so wird es Odenheim doch ganz sicher fehlen. So bleibt am Ende nur, sich zu verneigen und demütig Danke zu sagen. Danke für fast ein Jahrhundert Fleiß, Verlässlichkeit und Beständigkeit. Danke, Oma Schorle!

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19 Gedanken zu „Am Ende des Kaninchenbaus“

  1. Mein Opa hat nach dem Krieg ein Haus gebaut. Er hat die Steine bei ihrem Vater so gekauft, wie er Geld hatte. Ihr Vater meinte irgendwann zu ihm, er solle seine gesamten benötigten Steine holen und dann bezahlen wie er kann.
    4 Generationen von Odenheim haben hier eingekauft. Drei davon noch Baustoffe. Mein Mann wusste immer genau, wo seine benötigten Dinge zu finden waren, wenigstens wurde schon aus logistischen Gründen nicht ständig umgeräumt wie es in großen Handelsketten oft der Fall ist. Eine unglaubliche Ära eines nicht minder unglaublichen Geschäftes geht zu Ende.

  2. Spannende Reportage über so ein „Analoges Amazon“ , viel Respekt für Oma Schorle!
    PS: Der Titel an die älteste Einzelhändlering geht aber wohl immer noch an die Dame im Juweliergeschäft in der Bruchsaler Kaiserstrasse, die steht da noch immer im zarten Alter von über 100 hinter dem Tresen!

  3. Als wir nach Odenheim gezogen sind wurde uns gesagt geht zu Schorle da bekommt man alles und tatsächlich wir wurden nicht enttäuscht es war unglaublich!
    Wird uns fehlen!

  4. Ich bin begeistert von diesem Beitrag. Es ist nichts gelogen oder dazu gedichtet. Egal was man brauchte es gab immer alles und Oma Schorle wusste wo es zu finden war. Sogar in DM fand man noch ab und zu einen Artikel im Sortiment. Unser Haus hat vieles von dort bekommen, viele Geschenke habe ich dort gekauft. Und auch so manche Leute dort getroffen und angenehme schwätzle gehalten . Es wird wirklich fehlen. Mein Respekt und Hochachtung und ein fromer Wunsch in diesem Alter auch so fit zu sein!

  5. Ich war vor ein paar Jahren in dem Laden nach 17uhr eingeschlossen. Es war eine Kunst ohne Handy aus dem Labyrinth zu entkommen. Schade dass geschlossen wird. Der Lotte wünsche ich alles alles gute.

  6. Sie hat früher, als es noch nicht selbstverständlich war, dass Frauen überhaupt einen Führerschein haben, die Baustoffe sogar selbst mit dem LKW zur Kundschaft gebracht. Respekt!

  7. Ich war auch öfters und gerne da …einmal mit meiner Tochter, nach ne Weile meinte sie zu mir. „Mama ich bin überfordert ich muss hier raus“😅
    Wie schön erwähnt, Frau Brendel wußte wirklich immer ,wie was zu finden war…für mich ein Phänomen.
    Alles gute wünsche ihr …vor allem Gesundheit 🍀

  8. Hallo Lotte, nun ist es soweit am 31.12.2024 wirst du dein Geschäft für immer schließen. Liebe Lotte ich möchte mich im Namen der Odenheimer Vereine für die du immer ein offenes Ohr gehabt hast recht herzlich bedanken und wünsche dir alles Liebe und Gute vor allem viel Gesundheit und genieße das Leben. Aber eines weiß ich ganz genau ab dem 01.01.2025 wird mir persönlich aber auch Odenheim was fehlen.

  9. Vielen Dank für diesen gelungenen Beitrag! Der Schorle in Odnä war eine Sensation. Meine Eltern haben in den Sechzigern ihr Haus gebaut und ich war als kleines Mädchen immer mit Papa dort, um die Rechnungen zu bezahlen. Gerne denke ich auch noch an die Mutter von Frau Brendle zurück, die mir manchmal eine Orange geschenkt hat. Bei Schorle hat man einfach alles bekommen. Es war immer wieder ein Erlebnis. Ich wünsche Frau Brendle alles Liebe und Gute, vor allem Gesundheit!

  10. Auch ich bin als Kind schon gerne zu Schorles nach Odenheim gegangen.In den 70er Jahren haben meine Eltern gebaut und die Baustoffe haben sie dort gekauft. Da war sogar die Mutter von Frau Schorle Brendle im Büro und im Verkauf. Von ihr habe ich immer einen Apfel bekommen. Daran kann ich mich noch gut erinnern obwohl es über 50 Jahre her ist.

  11. Mit Handy und einem QR – Code und viele Automaten kann sich der Michl weiterhin gut unterhalten ! Ahmen und Danke Oma 👍

  12. Ein sehr beeindruckender Beitrag Respekt wie Lotte noch im hohen Alter das alles geleistet hat.Da muss man mit Liebe und Herzblut dabei sein sonst schafft man so eine arbeitsreiches Berufsleben nicht so lange.
    Wir sind von einem Nachbarort und sind immer gerne in den Laden gegangen sie hatte einfach alles. Danke und alle guten Wünsche.

  13. Das ist schon eine große Leistung so lange Jahre und bis ins hohe Alter ein Geschäft zu führen. Das verdient hohen Respekt und Dankbarkeit .Wir wohnen im Nachbardorf auch hier kennt jeder den Schorle Erlebnismarkt mit dem großen Sortiment.
    Wir wünschen Ihnen einen gesegneten Lebensabschnitt mit viel Gesundheit.

  14. Ich ( nicht Odnamä) war auch ein paar Mal bei Schorles,da ich von einer Freundin gesagt bekam: Do musch mol no und ich bin nicht mehr aus dem Staunen, Schauen rausbekommen. Es gab Dinge die man sonst nirgendwo mehr bekommen hätte. Meine große Frage war auch: Wie komme ich wieder aus diesem Labyrinth heraus. Ich bin nie mit leeren Händen rausgegangen. Alles Gute !

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