Kampf dem Donut – Wie Graben-Neudorfs neues Herz allmählich zu schlagen beginnt
von Stephan Gilliar
Das aus einem Dorf eine Stadt wird, passiert heutzutage vergleichsweise selten. Oberderdingen hat diesen Sprung beispielsweise gerade geschafft, mehr ein Verwaltungsakt als Folge eines weithin sichtbaren Booms. Formal ist es so: Ein Dorf in Baden-Württemberg wird zur Stadt, wenn es einen Antrag stellt, mindestens ca. 10.000 Einwohner hat, eine zentrale Bedeutung für das Umland besitzt und die Landesregierung ihm die Stadtrechte verleiht. Soweit so unromantisch, doch mal ehrlich – gefühlt zählen für dieses Upgrade doch ganz andere Aspekte. Es muss sich auch wie eine Stadt anfühlen, ein echtes Zentrum haben, städtische Strukturen aufweisen, über einen guten Nahverkehr, eine vollumfängliche Nahversorgung, Bildungseinrichtungen, Verwaltung und nicht zuletzt ein Stadtbild verfügen, dass man auch wirklich mit einer Stadt assoziiert.
Die Realität in vielen Gemeinden der Region sieht jedoch gänzlich anders aus. Viel zu oft werden die immer gleichen Fehler wiederholt – Bauen nur am Rand, Ausbluten im Herzen, Straßen und Parkplätze statt echtem Lebensraum. Doch dabei gilt es fair zu bleiben, manche Kommunen haben kaum eine Chance für eine echte Innenentwicklung, da die Voraussetzungen teilweise denkbar schlecht sind. Zum Beispiel solche, die, bei der in den Siebziger Jahren mehr auf Quantität als Qualität abzielenden Gemeindegebietsreform, lose zusammengewürfelt wurden. Schwer haben es aber auch Straßendörfer, die historisch über keinerlei Zentrum verfügen, es nachträglich nur mit massiven und kostspieligen Abbruch- und Bauarbeiten realisieren könnten.
Wenn die Voraussetzungen aber stimmen, dann kann ein Dorf nicht nur nach formalen Kriterien, sondern auch in seiner inneren und äußeren Wahrnehmung zur Stadt werden. Ein solches Phänomen lässt sich derzeit in der ebenfalls Anfang der Siebziger Jahre fusionierten Gemeinde Graben-Neudorf erleben. Vormals zwei verschlafene Dörfer, die sich noch vor wenigen Jahrzehnten in keinerlei Weise vom ländlichen Einheitsbrei abhoben, wachsen derzeit zu etwas zusammen, das sich bereits jetzt kleinstädtisch anfühlt und auch so aussieht.
Das Besondere: Das Zentrum dieser neuen Kleinstadt in spe formt sich nicht in einer der beiden historischen und heute eher atrophierten Dorfmitten, sondern genau dort, wo die beiden einstmals getrennten Ortschaften aneinander stoßen – an ihren Rändern. Dank dem Weitblick des während der Fusion amtierenden Bürgermeisters Werner Juchler, entsteht die neue Ortsmitte von Graben Neudorf tatsächlich genau dort, wo die beiden einzelnen Dörfer ihre erste gemeinsame Schnittmenge bildeten. Hier wurde quasi auf der grünen Wiese nicht nur das neue Rathaus errichtet, sondern auch ein Schulzentrum und eine Sporthalle. Es folgte die Ansiedlung von Gastronomie und Geschäften sowie das große Gebäude der Regionaldirektion der Sparkasse. Direkt dahinter, vis-à-vis des Bahnhofs Graben-Neudorf eine weite Einkaufsmeile mit einem halben Dutzend Supermärkten.
Auch nach der Amtszeit von Werner Juchler wurde dessen Vision der neuen Ortsmitte weiter umgesetzt. “Kampf dem Donut”, nennt der amtierende Bürgermeister Christian Eheim (SPD) dieses Großprojekt. „Wir hatten keinen alten Ortskern, der leer steht, sondern wir hatten überhaupt keinen Kern, nur eine grüne Wiese hier. Und dann war klar, dieses Loch müssen wir zuerst füllen.“ Der Donut steht dabei für ein Ortsbild, das man nur zu gut aus der ganzen Region kennt. Wachsende Ränder, Ödnis in der Mitte. Kein Wunder, ist doch das Ausweisen von Neubaugebieten deutlich leichter und komplikationsärmer im Vergleich zu einer aufwändigen Neustrukturierung von nicht selten marodem Bestand in der Mitte. Die Voraussetzungen in Graben-Neudorf dagegen – ein Traum für Stadtplaner. Was Christian Eheim in Graben-Neudorf aktuell voranbringt ist nicht die Geburtsstunde einer Idee, sondern im Grunde deren Vollendung, das weiß der kürzlich wiedergewählte Rathaus-Chef nur zu gut. „Wir haben nur den letzten Baustein gemacht, aber viele Generationen vor uns, haben seit 1972 die Grundlagen und die Ziele eigentlich schon festgelegt.“.
Tatsächlich hat die neue Mitte in Graben-Neudorf aber erst in den letzten Jahren ein echtes Gesicht, ein echtes Zentrum erhalten, quasi das Bullseye auf der Dartscheibe. Tatsächlich erinnert das hier – direkt an der alten B36 entstandene und zwischen Rathaus und Bahnhofsareal gelegene Quartier – nicht mehr wirklich an ein Dorf, sondern vielmehr an urbane Strukturen. Große, moderne Klinkerwürfel umrahmen verwinkelt angeordnet den zentralen Platz. 137 Wohneinheiten sind hier entstanden, manche davon für betreutes Wohnen optimiert, manche als geförderter Wohnraum und wiederum andere als Eigentum konzipiert. Wenn der große Neubau, den die Sparkasse Karlsruhe aktuell hinter ihrer Regionaldirektion in den Himmel wachsen lässt, einmal fertig ist, kommen noch viele weitere Wohnungen dazu. Doch es geht nicht nur ums Wohnen, sondern eben um all die anderen Attribute, die aus einem Quartier erst ein solches werden lassen. Es bietet Raum für Arztpraxen, Dienstleistungen, Betreuungsangebote, Gastronomie und mehr. Der kleine Platz soll sukzessive zum Treffpunkt nicht nur für die Quartierbewohner sondern für ganz Graben-Neudorf werden. Schon jetzt gibt es einen regelmäßigen Wochenmarkt, kulturelle Veranstaltungen und Co.
Dass die Architektur der hier entstandenen Gebäude strikt kubisch und minimalistisch daherkommt, hat auch einen handfesten Grund, ist nicht nur irgendeinem Designentwurf geschuldet. Die neue Mitte ist als komplett CO²-freies Quartier konzipiert, erzeugt den absoluten Löwenanteil der von ihr benötigten Energie selbst und das nahezu emissionsfrei. Diese grüne Linie zieht sich durch das komplette Konzept, von der riesigen Photovoltaikanlage auf dem Dach, über Wärmepumpen und Wallboxen für jede Wohnung und jeden Stellplatz bis hin zu Erdwärmesonden, die wiederum ihren Teil zur energetischen Musterbilanz der Anlage beitragen. Entwickelt wird die ‚Neue Mitte‘ durch die evohaus GmbH aus Karlsruhe, die sich gemeinsam mit HANEN Architekten aus Karlsruhe im von der Gemeinde ausgeschriebenen Wettbewerb durchgesetzt hatte. Architekt Heinz Hahnen hat in den vergangenen Jahrzehnten reichlich Erfahrung mit innovativen Bauprojekten dieser Art sammeln können, hat – unterstützt und gefördert durch die EU – gemeinsam mit großen europäischen Forschungseinrichtungen, darunter auch das KIT Karlsruhe, das Konzept Stück für Stück entwickelt und weiter verfeinert. In der Tat ist das technische Rückgrat der Neuen Mitte beeindruckend: „Die erste Quelle ist der Strom, der mit der PV auf dem Dach produziert wird.“ erläutert Heinz Hahnen, „Die zweite Quelle ist die oberflächennahe Geothermie….“ und schließlich: „Mit dem Strom betreiben wir zunächst Grundwasserpumpen. Die Grundwasserpumpen heben dann das Wasser hoch, schicken es über die Wärmepumpen.“
Aber hier wohnen, das muss man natürlich auch wollen. Denn ein dörfliches Gesicht hat die neue Mitte definitiv nicht. Nicht wenige lehnen die eher zweckförmige Bauweise als kalt und steril ab, fühlen sich an anonyme Wohnblocks erinnert, die man in der Tat eher in der Peripherie größere Städte, als im ländlichen Raum findet. Die Meinungen zur Neuen Mitte sind daher alles andere als durchgehend euphorisch, in den sozialen Netzwerken mangelt es nicht an Kritik an den mehrstöckigen Blockbauwerken.
Dennoch, vom energetischen Ausgangspunkt aus gesehen, ist die Anlage beeindruckend: Sie produziert den Großteil der nötigen Energie selbst, stellt diese zu günstigen Konditionen den eigenen Bewohnern zur Verfügung. Wer Teil der Neuen Mitte werden möchte, muss diese Art der Energielieferung als Vertragsbestandteil akzeptieren, alles andere würde auch keinen Sinn machen, da nur durch den gemeinschaftlichen Unterhalt der technischen Anlagen, Kosten und Nutzen effizient umgelegt werden könnten. Klagen hört man wohl kaum, liegen durch ein ausgeklügeltes System an Pufferspeichern und einander ergänzenden Energieerzeugungssysteme, die Kosten über das Jahr verteilt doch deutlich unter denen konventioneller Lieferverträge, erläutert Heinz Hahnen, der mit seinen Unternehmungen daran arbeitet, gleichzeitig ökologisch verantwortlich aber auch wettbewerbsfähig, Projekte wie die neue Mitte umzusetzen. „Es geht um das nachhaltige, das ökologische Bauen und das muss eben auch noch kosteneffizient sein.“ weiß der seit vielen Jahren in Karlsruhe wohnhafte Unternehmer.
Doch wir erleben die Menschen ihre Neue Mitte in Graben-Neudorf? Auch das ausgeklügeltste System funktioniert schließlich nicht, wenn es sich nicht mit Leben füllt. Augenfällig scheint der Plan aufzugehen. Im neuen Bäckerei-Café von Walter Köhler im Erdgeschoss eines der neuen Häuser, ist an diesem Morgen die Bude gerammelt voll. Mehrere Handwerker sitzen beieinander, unterhalten sich, schlürfen an ihrem Kaffee. In der Ecke hat sich an einem großen Tisch eine Gruppe ältere Damen zum Kaffeekränzchen versammelt, die Atmosphäre ist fröhlich und die Kakophonie von Gelächter und Tratsch lässt die Luft vibrieren. Hier ist immer etwas los, bestätigt sinngemäß auch Brigitte Köhler, die gut gelaunt durch die Reihe der Tische und Stühle gleitet, immer mal wieder anhält um sich kurz zu unterhalten, Gäste zu begrüßen und nach dem Rechten zu sehen.
Draußen findet gerade der Wochenmarkt statt. Vor den mobilen Ständen drängen sich Trauben von Menschen. Die Metzgerei Maag ist mit ihrem mobilen Stand vor Ort, es gibt Gemüse vom Hofladen direkt aus dem Ort, dazu Käse, Kaffee und noch einiges mehr. Die Grünen haben einen Infostand aufgebaut, die Bundestagswahl wirft schließlich ihre Schatten voraus. Insgesamt ein emsiges Rauschen über dem ganzen, nach Werner Juchler benannten Platz. Direkt daneben ein kleines Gimmick – mehr ein PR-Stunt, als auf Dauer angelegt – der kleine, symbolische “Klimawald” der Neuen Mitte. Eine Ansammlung von Bäumen, dazwischen ein echter Waldpfad voller Laub, sogar eine Bank. Mit diesem Wäldchen möchte man auf die ökologische Bedeutung des Quartiers aufmerksam machen, wenngleich es auch nicht auf Dauer angelegt ist. Die Bäume wurden nicht eingepflanzt, sind in mobilen Behältnissen ausgewurzelt, das sich ergebende Bild aber tatsächlich irgendwie nett.
Verschwinden werden die Bäume aber nicht, ein großer Teil davon soll auf dem Dach des letzten Puzzleteils der Neuen Mitte dauerhaft Wurzeln schlagen dürfen. Bald entsteht nämlich hier noch ein kleiner Pavillon, offen, lichtdurchflutet und nachhaltig gestaltet, der für viele Gemeindeaktivitäten Raum bieten soll. „Wir wollen noch ein kommunales Gebäude bauen, wir nennen das Leben, Land und Begegnungsort Neue Mitte.“ erläutert Christian Eheim.
Die Neue Mitte in Graben-Neudorf wird übrigens nicht nur durch Neubürger oder eben Neigschmeckte besiedelt, auch der eine oder andere Alteingesessene hat zwischenzeitlich den Weg hierhin gefunden. Bernhard zum Beispiel, der gerade vom Einkauf auf dem Wochenmarkt zurückkommt, ganz ins Gespräch mit seiner neuen Nachbarin vertieft. Er hat sein Elternhaus in Graben verkauft, sich vom Erlös eine neue Eigentumswohnung in der neuen Mitte geleistet. Ein Schritt, der ihm alles andere als leicht gefallen ist, aber da von seinen Kindern niemand das Haus übernehmen wollte, hat er sich für einen pragmatischen Weg entschieden, erzählt er. Zwei Zimmer im fünften Stock gehören nun ihm allein, eine große Umstellung im Vergleich zum gewohnten Raum und dem Platz zum Werkeln in seiner alten Wohngegend. Ganz angekommen ist er hier noch nicht, es sei gewohnheitsbedürftig, die vielen Fremden um einen herum, sagt er. Aber er hat auch bereits neue Menschen kennengelernt und hoffe darauf, dass es noch mehr werden könnten.
Das hoffen auch Christian Eheim und Heinz Hahnen, schließlich ist das Projekt als echtes Quartier angelegt, als Begegnungsstätte und als Ort, an dem Menschen auch wirklich zusammenfinden können. Während andere Umlandgemeinden teilweise zu reinen Bettenburgen für das große Karlsruhe degenerieren, will man hier einen ganz anderen Weg gehen. Das Leben findet nicht in Karlsruhe statt, sondern genau hier. Wir haben mehr Pendler, die morgens nach Graben-Neudorf kommen, als umgekehrt, erzählt Christian Eheim stolz. Der Grund dafür – natürlich auch die starke innerörtliche Wirtschaft, allen voran die SEW, die im Grunde ein eigenes Viertel füllt.
Ja, die Voraussetzungen für ein Projekt wie die Neue Mitte sind in Graben-Neudorf ideal, sehr viel besser als an manch anderem Ort. „In Graben-Neudorf ist die Bilanz fast ausgeglichen. Das macht uns natürlich nochmal ganz besonders zu einer Gemeinde, die halt eben keine Schlafstadt ist.“ so Christian Eheim. Ob von der Neuen Mitte aber dauerhaft die entsprechende und erwünschte Signalwirkung ausgeht, bleibt natürlich noch abzuwarten, für ein Fazit ist das Projekt einfach noch zu jung. Auch steht aus, wie weit die Menschen diese neue Mitte und die Transformation ihrer Heimatgemeinde am Ende annehmen werden und hier nicht doch auch ein Stück weit der Wunsch Vater des Gedanken ist. Aus einem Dorf wird nicht über Nacht eine Stadt, nur weil ein paar neue Bauwerke in dessen Mitte entstehen – Wachstum vollzieht sich nicht nur am Körper sondern auch in Gedanken.
Update 02.02.: Der Artikel wurde nach der ersten Veröffentlichung in geringem Umfang angepasst, um eine ausgewogenere Darstellung zu gewährleisten.
Diese Glorifizierung der Bauten der Neuen Mitte ist leider sehr unausgewogen. Zur Wahrheit gehört auch, dass derzeit lange nach Fertigstellung noch ca. 50% der Wohnungen leerstehen. Die Meinung der Bevölkerung wurde umgangen / ignoriert, nachträgliche Umfragen die dann leider unter den Tisch gekehrt wurden, ergaben mehrheitlich ein schlechtes Zeugnis („Ghetto“, „Zerstörung des dörflichen Charakters*,…). Das ohnhin schon höchste Gebäude wurde ohne Kommunikation und Einbeziehung der Bürger einfach gegenüber den ursorünglichen Planungen aufgestockt, was sich dann übrigens beim Bau auf dem ehemaligen Parkplatz der Sparkasse wiederholt hat.
Veranstaltungen werden krampfhaft mitten ins Wohnquartier gezogen und belästigen die Bewohner.
Da haben wohl einige Leute nicht verstanden warum das „Bürger“meister und „Gemeinde“rat heisst.
Ich bitte um ausgewogene und recherchierte Berichterstattung, ein weiteres Sprachrohr der Gemeindepolitik braucht niemand.
Gut den Werbetext analysiert.
Hoffe Graben Neudorf bleibt ein Dorf
Dem Beitrag kann ich nur zustimmen. Es ist einfach nur entsetzlich was hier entstanden ist .
Ehrliche Meinung: schrecklich! Ich möchte da nicht wohnen!
Und so glücklich sieht der Bernhard auch nicht aus…
Wir haben unser Haus im Untergrombach verkauft, und haben Gott sei Dank in der Neuen Mitte unsere Traumwohnung gefunden. Hier zu leben ist ein Genuss. Zum Wochenmarkt,
Zum Adventzauber, Zur Vatertagveranstaltung u.s.w. keine Veranstaltung hat die Bewohner gestört. Wir wünschen uns ,für die Bewohner von Graben-Neudorf das die Neue Mitte immer mit Leben geflutet wird. Danke Herr Juchler für die Vision.
Möchte mich auch bei der Gemeinde
und bei Herrn Eheim bedanken.
Bei Herrn Kammerer, Maag, Käse Kati, u.s.w die jeden Samstag bei Wind und Wetter zu uns in die neue Mitte kommen.