Antisemitismus ist nicht nur anderswo ein Problem, sondern auch hier, direkt unter uns.
von Stephan Gilliar
Ein düsterer, wolkenverhangener Herbstnachmittag im November. Jeder meiner Schritte raschelt im trockenen Herbstlaub hier im dichten Gehölz am Rande des Kraichtaler Stadtteils Oberöwisheim. Ich steige eine alte Treppe am steil nach unten führenden Hang im Gewann Reimenhälden hinab. Vor mir liegt ein verwittertes Tor, hinter dem sich der alte jüdische Friedhof erstreckt. Leise ist es hier, kaum ein Laut ist zu hören, hin und wieder krächzt eine Krähe irgendwo im Gebüsch, das den weitläufigen Friedhof wie einen undurchdringlichen Wall umgibt. Dieser Ort ist alt … uralt. Schon seit dem 17. Jahrhundert wurden hier Menschen zur letzten Ruhe gebettet. Es ist der älteste jüdische Friedhof im Kraichgau. Im vorderen Teil stehen die Grabsteine noch in Reihen angeordnet, im hinteren und älteren Teil ragen sie schief und mit Moos bewachsen überall aus dem Waldboden. Manche sind schon fast in der Erde versunken, andere dagegen geben ihre hebräischen Inschriften noch dem aufmerksamen Betrachter preis. „Hier ruht ein geradsinniger Mann … gestorben in gutem Namen …“ steht auf einem, der im Schatten einer alten Buche steinern Zeugnis gibt, übersetzt die Alemannia Judaica.
Wer auch den Rest dieses in der Zeit erstarrten Stilllebens aufmerksam betrachtet, der kommt nicht umhin zu bemerken, dass dies doch ein äußerst seltsamer Ort für einen Friedhof ist. Weit außerhalb des Dorfes, gelegen in einem unwegsamen Waldstück an einem steilen Hügelhang. Wie beschwerlich es gewesen sein muss, die Toten hier zur letzten Ruhe zu betten. Dieser Gedanke trügt nicht: Die Ausweisung des Friedhofs in diesem höchst ungeeigneten Gelände war damals kein Zufall. Es war eine aus der Not geborene Lösung, die die Kraichgauer Juden schon in den Zwanzigerjahren des 17. Jahrhunderts mangels Alternativen akzeptieren mussten. Juden war es damals schlicht nicht erlaubt, ihre Toten auf christlichen Friedhöfen zu begraben. So blieb ihnen bis dahin nichts anderes übrig, als die Verstorbenen zum jüdischen Friedhof nach Speyer zu transportieren. Hinzu kommt, dass nach jüdischem Brauch ein Leichnam spätestens einen Tag nach Eintritt des Todes der Erde übergeben werden muss. Der lange Weg nach Speyer war in dieser kurzen Zeit kaum zu schaffen. So akzeptierten die jüdischen Gemeinden 1629 notgedrungen die Offerte der Dorfherren zu Helmstadt und Sternenfels und pachteten den unwirtlichen Steilhang bei Oberöwisheim. Doch die schlechte Lage des Friedhofes war nicht der einzige Stolperstein, den man damals im 17. Jahrhundert den jüdischen Mitbürgern in den Weg legte. So wurden stets hohe Geldbeträge fällig, wenn jüdische Familien ihre Verstorbenen durch die Dörfer zum Friedhof transportieren wollten. In jeder Ortschaft hielten die Obrigkeiten die Hände auf, wenn der Verstorbene auf seinem letzten Weg deren Gemarkung durchqueren musste.
Diese Ereignisse liegen bereits 400 Jahre in der Vergangenheit zurück und dennoch zeigen sie eindrücklich, dass der Hass auf Juden nicht nur ein Phänomen irgendwelcher anderer Menschen an weit entfernten Orten oder eine abstrakte Strömung der Geschichte ist, sondern auch uns betrifft – hier direkt vor unserer eigenen Haustür, inmitten unserer Hügel. Denn der feindselige und despektierliche Umgang mit unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern endet nicht etwa mit den Gängeleien der Dorfherren im 17. Jahrhundert, sondern zieht sich wie eine blutrote Linie durch die ganze Geschichte hindurch bis in die Gegenwart. Immer wieder wurden jüdische Friedhöfe Ziel von Aggression, Hass und dem Wunsch nach Zerstörung. Ein alter Zeitungsartikel aus den Dreißigerjahren berichtet beispielsweise von umgeworfenen Grabsteinen und zertrümmerten Grabplatten. Der letzte dokumentierte Vorfall ist gerade einmal 20 Jahre her, datiert auf den Frühling 2003. Auch der jüdische Friedhof im nur rund 20 Kilometer entfernten Eppingen war in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Ziel von Zerstörung und Vandalismus. 1971 wurden etwa 16 Grabsteine beschädigt, der schlimmste Vorfall ereignete sich aber 1982. Eine Gruppe drang Ende September auf das Friedhofsgelände ein, mit der Absicht, die Gräber zu öffnen und die Schädel der Toten zu entnehmen. Da dies nicht gelang, wurden in der Folge aus purem Frust 44 Grabsteine mutwillig umgestoßen. Die Täter wurden verurteilt, die Schäden in den kommenden beiden Jahren unter anderem durch das Engagement von Eppinger Schülern behoben. Nicht jeder dieser Vorfälle dürfte einen antisemitischen Hintergrund haben, aber die Häufung der Fälle ist erschreckend.
Es sind nur ein paar Beispiele, die sich beliebig in alle Richtungen ergänzen lassen. Egal, welchen jüdischen Friedhof Sie sich genauer ansehen, fast immer werden Sie auf Zeugnisse von Übergriffen, Gewalt und Zerstörung stoßen. Dies geschieht auf dem Land wie auch in der Stadt. 1992 wurden auf dem Karlsruher Hauptfriedhof jüdische Gräber geschändet, das letzte Mal geschah dies 2018 – nicht einmal sechs Jahre sind seither vergangen. Und für alle, die jetzt noch glauben, dass es sich dabei um Phänomene der Vergangenheit handelt: Die Zerstörung eines jüdischen Mosaiks im Garten der Religionen in Karlsruhe ist nicht einmal fünf Wochen her. Allein im vergangenen Jahr wurden im Landkreis Karlsruhe rund 17 politisch motivierte Straftaten mit antisemitischem Hintergrund erfasst, darunter Volksverhetzung und die Nutzung verfassungsfeindlicher und terroristischer Symbole. Das ergab eine Anfrage der beiden Landtagsabgeordneten Fink-Trauschel und Jung im November 23. Die meisten Fälle, die sich tagtäglich in den sozialen Netzwerken abspielen, werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht einmal registriert oder erfasst. Die Dunkelziffer dürfte enorm sein.
Was können wir aus diesen Erkenntnissen gewinnen? Nun, vielleicht im besten Fall, dass Antisemitismus eben nicht immer nur anderswo stattfindet, sondern auch hier – direkt unter uns. Er hat Einzug in viele Köpfe und Herzen gehalten, wird seit Jahrhunderten genährt und weitergegeben, nicht einmal schreckliche historische Zäsuren wie der Holocaust konnten daran etwas ändern. Es ist unendlich wichtig, dass wir dieses Phänomen nicht immer weitertragen, ihm bewusst begegnen. Und das geht nur, indem wir uns ehrlich machen und wachsam betrachten, was ist … in uns und um uns. Gleichzeitig – und es ist wichtig, auch das hervorzuheben – bedeutet eine solche Haltung keineswegs, sich automatisch mit den politischen Entscheidungen und Positionen des Staates Israel zu identifizieren oder diese unkritisch zu unterstützen. Es ist durchaus möglich, Antisemitismus klar zu verurteilen und gleichzeitig eine differenzierte Sichtweise auf die israelische Politik zu bewahren, das ist richtig. Falsch ist aber Hass.. immer, überall – pauschal oder fokussiert. Besonders schön hat das Mahatma Gandhi auf den Punkt gebracht: Wo Liebe wächst gedeiht Leben, wo Hass aufkommt, droht Untergang.