Die Zeit des Schweigens ist vorbei – Hunderttausende gingen am Wochenende für Demokratie und Menschlichkeit auf die Straße. Eine jede und ein jeder Einzelne davon sollte stolz auf sich sein
Ein Kommentar von Stephan Gilliar
Um mich herum wogt die Menge, drängen sich Menschen Schulter an Schulter. Etwas größer als der Durchschnitt blicke ich mit meinen 1,95 Metern über ein Meer aus Köpfen, das sich von den ersten Ausläufern des Schlossplatzes bis hin zum Rondellplatz erstreckt. Ein- bis zweitausend Menschen waren für die Demonstration auf dem Karlsruher Marktplatz angemeldet, am Ende sollten es mehr als 20.000 werden. Ich stehe irgendwo im Schatten der Pyramide, hier mitten im Herzen meiner Heimatstadt und muss schwer schlucken, als mir Schauer der Ehrfurcht und der Rührung den Rücken herunterlaufen. Um mich herum sind Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts, jeder Herkunft. Ich sehe Kinder, Senioren, Hautfarben jeden Couleurs, Menschen im Rollstuhl, an Gehhilfen, in Segeltuchjacken und in feinem Zwirn. Manche schauen ernst, manche lachen, manche sind leise, manche sind laut – aber all das spielt überhaupt keine Rolle.. wichtig ist einfach nur, sie sind hier!
Ich gebe es frei zu, ich hatte Angst vor diesem Tag – Angst dass wir nur wenige sein würden, die hier an diesem eiskalten Januartag ihre Stimmen und ihre Hände erheben, doch das, was hier und heute geschieht, darf mit Fug und Recht als historisch betrachtet werden. Denn nicht nur hier in Karlsruhe, sondern überall in der ganzen Bundesrepublik sind an diesem Wochenende Menschen auf die Straße gegangen und haben ein so klares Bekenntnis für Demokratie und Menschlichkeit abgegeben, dass es nie wieder aus der Welt zu schaffen ist. Viele hunderttausend sollten es am Ende sein, die größte Welle an Demonstrationen die dieses Land seit Jahrzehnten gesehen hat.
Ich hatte auf diesen Tag gehofft, wenngleich nicht damit gerechnet. Der Moment, in dem sich endlich diese riesige schweigende Masse erhebt, deren Präsenz wir alle doch immer ahnten, die aber bislang den Sprung ins Licht und in das Bewusstsein dieser Gesellschaft nicht gewagt hat. Diese riesige, dynamische Kraft, die bislang all die Abscheulichkeit, all die Kleingeistigkeit, die Niedertracht und den Hass, der sich Stück für Stück ins Herz dieser Demokratie gefressen hat, still gewähren ließ. Immer unverhohlener und skrupelloser wagten sich so jene Stück für Stück aus der Deckung, deren Angebot uneinlösbar einfache Antworten auf komplexe Probleme sind, die auf Ausgrenzung und Spaltung setzen, dabei an die niedersten Instinkte in uns appellieren.
Stück für Stück verschob sich die Grenze des Unsagbaren, immer mehr Tabus fielen, bis es zum Schluss zu viel wurde… zu unerträglich für die Vielen. So ist etwas erwacht, dass viel zu lange geschlafen hat, dass hoffentlich nie wieder in diesen Schlaf zurückfallen wird. Eine hunderttausendfach donnernde Stimme, die nun hier und heute klar und deutlich verlauten lässt: Bis hierher und nicht weiter!
Hoffnung auf den Wandel alleine ist nicht genug, es gilt nun auf den Füßen zu bleiben und das zu verteidigen, was uns allen lieb und teuer ist. Denn was bleibt für uns Menschen noch übrig, so ganz ohne Menschlichkeit?
Wenn dieses denkwürdige Wochenende sich dem Ende entgegen neigt, werden unsere Probleme immer noch da, unsere Herausforderungen noch immer erdrückend groß sein. Antworten darauf sind nicht leicht zu finden und der Pfad dorthin ist steinig und lang. Welchen Weg wir aber nicht bereit sind zu gehen, welche Grenzen wir nicht bereit sind zu überschreiten, haben wir nun mit den Stimmen der vielen eindrücklich klargemacht und darauf sollten wir unendlich stolz sein. Ich bin es jedenfalls!
Bleibt standhaft Freunde, der Anfang ist gemacht!