Hunderte Millionen will das auf Antriebstechnik spezialisierte Unternehmen erneut in den Standort Graben-Neudorf investieren
Aus der Luft betrachtet sieht Graben-Neudorf ein bisschen aus wie ein Stiefel. Der Absatz dieses Stiefel wäre in diesem Bild das Industriegebiet der Gemeinde, ein Industriegebiet, das dominiert wird von den drei knallroten Buchstaben – SEW. Das auf Antriebstechnik spezialisierte Unternehmen mit Stammsitz in Bruchsal hat sich hier 1948 niedergelassen und schon damals mit rund 10.000 m² eine außergewöhnlich große Zweigstelle in der praktischerweise gleich nach seinem langjährigen Geschäftsführer Ernst Blickle benannten Straße gebaut.
Als kurzer Reinholer, falls es tatsächlich noch irgendjemanden geben sollte, der das Unternehmen nicht kennt: Vor 96 Jahren konstruierte ein Tüftler namens Albert Obermoser eine ganz neue Antriebstechnik, den Vorgelegemotor. Leider war er zwar ein guter Konstrukteur, aber offenbar kein glücklicher Geschäftsmann, das Unternehmen ging pleite. Der Banker Christian Pähr sah jedoch große Chancen in der Technik und kaufte die entsprechenden Rechte aus Albert Obermosers Scherbenhaufen. 1931 gründete er in Bruchsal die SEW, was ausgesprochen für “Süddeutsche Elektromotoren Werke” steht. (Heute offiziell SEW-EURODRIVE, was wir der Einfachheit halber abkürzen) Nach seinem Tod führte zunächst seine Frau die Geschäfte weiter, schließlich übernahm sein Schwiegersohn, womit wir bei Ernst Blickle und der nach ihm benannten Straße wären.
Dass Graben-Neudorf an SEW glaubt, sogar Straßen zu Ehren des heute international agierenden und Umsätze im Milliardenbereich generierenden Unternehmen benennt, war offenbar eine gute Wette auf die Zukunft, denn der Standort wächst seither beständig weiter. Erst 2013 kündigte SEW an, einen Milliardenbetrag in den Ausbau neuer Hallen, Produktionsstätten und Räumlichkeiten am Graben-Neudorfer Stiefelabsatz investieren zu wollen. Wer vom Knotenpunkt B35 / B36 nach Graben Neudorf fährt, passiert im Grunde einen kompletten Stadtteil, dessen Bewohner das feuerrote Emblem aus drei Buchstaben auf der Brust tragen. Eine Brückenkonstruktion zieht sich über die Straße, ein Kreisverkehr verzweigt in die Tiefen des SEW-Geländes, dazu ein riesiges Parkhaus, in Aluminiuntönen glänzende Bürogebäude und Hallen… imposant ist SEW-City in jedem Fall.
Offenbar noch nicht imposant genug, denn SEW will in Graben-Neudorf weiter aufs Gaspedal drücken. Wie das Unternehmen auf einer Pressekonferenz im Rathaus Graben-Neudorf heute bekannt gegeben hat, soll in der Gemeinde ein neues Montage- und Logistikzentrum für Getriebemotoren entstehen. Weitere 350 Millionen Euro möchte SEW in dieses Upgrade investieren, dessen bauliche Umsetzung noch im Laufe dieses Jahres beginnen und bis 2031 abgeschlossen werden soll. Mehr Fläche soll für die 76.000 Quadratmeter umfassenden Hallenkomplex offenbar nicht verbraucht werden, am Standort sollen alte Produktionshallen zuvor abgerissen werden. Einmal fertiggestellt sollen in den neuen, auf Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität ausgelegten Produktionshallen 7.500 Getriebemotoren vom Band laufen – täglich.
Nachvollziehbar erfreut über den Entschluss weiterer Investitionen seitens SEW in seiner Gemeinde, zeigt sich Bürgermeister Christian Eheim. „Danke, dass Sie sich einmal mehr bekennen, zu unserem Standort und zu den Menschen in der Region.“ so der Bürgermeister. Diese massive Investition sichere Jobs und Wohlstand in Graben-Neudorf und in der ganzen Region. Mehrere hundert Arbeitsplätze sollen durch die Erweiterung vor Ort geschaffen werden.
Klotzen nicht kleckern, das scheint in diesem Fall die SEW-Maxime sein, oder wie man es etwas eleganter ausdrückt: “Pioniergeist in unsicheren Zeiten”. Schlecht läuft es aber für den international agierenden Spieler nicht – wahrlich nicht. Stattliche 4,5 Milliarden Euro Umsatz konnten 2023 erzielt werden. “Das Unternehmen resilient für die Zukunft aufstellen und unabhängiger werden” begründet Dr. Jörg Hermes, COO von SEW die Entscheidung für weitere Investitionen in den Standort. Man müsse den Wandel zum intelligenten Unternehmen vorantreiben, um für die Zukunft aufgestellt zu sein. Das Projekt ist die letzte Phase des Generalbebauungsplans 2050, wie Johann Soder, Geschäftsführer für Sonderthemen weiter ausführt. Am Ende sollen alle Bestandteile des Komplexes in Graben-Neudorf perfekt miteinander vernetzt sein, intelligent miteinander interagieren können. “Wichtig in unserer DNA war immer Graben-Neudorf, in Kooperation mit der Gemeinde haben wir hier was Tolles geschaffen in der Region” so Soder weiter.
Gibt es schon eine Bürgerinitative gegen den Aus-/Umbau? Ich frage für mein klagefreudiges Umfeld.