Kein starrer Fahrplan – dafür Raum für Individualität und Selbstentdeckung. Das ist das Konzept der Freien Schule Oberöwisheim. Ob es wirklich aufgeht, wird die Zeit zeigen müssen.
Ein Beitrag von Stephan Gilliar
Noch zwei Monate, dann sind wieder Sommerferien in Baden-Württemberg. Doch vor der großen, sechswöchigen Freiheit steht traditionell der knallharte Moment der Erkenntnis. Am Zeugnistag steht der schonungslose Kassensturz an, dann wird jedes Schulkind mit einer Kennziffer versehen, die die Leistung in einem jeden Fach mit einer Zahl zwischen 1 und 6 bewertet. Für Kinder die sich in der Schule eher schwer tun, ist dies ein kritischer und angstbehafteter Moment, kann er doch über Gedeih und Verderb, über Weiterkommen oder Zurückbleiben entscheiden. Wie heißt es doch so schön im Grimmschen Märchen vom Aschenputtel: “Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen”.
Das deutsche Schulsystem arbeitet gerne mit solchen Töpfen. Es gibt definierte Leistungsziele vor, die innerhalb eines definierten Zeitraums zu erreichen sind. Per Frontalunterricht wird Wissen vermittelt, dessen Verständnis in Klausuren abgefragt und bewertet wird. Wer die Anforderungen nicht erfüllt, bleibt auf der Strecke zurück oder am Ende sitzen. Das ist im Wesentlichen nachwievor der Königsweg des deutschen Bildungswesens. Kontrolle ist gut, Vertrauen nachrangig. Individualität spielt in diesen Strukturen keine allzu große Rolle, ebenso jedwede Form von Flexibilität in der Ausgestaltung von Zielmarken.
Doch es gibt seit einigen Jahren Schulformen, die diesem eingefahrenen “Business as usual” echte Alternativen entgegenstellen und das Augenmerk wieder vermehrt auf die einzelnen SchülerInnen richtet. An den vergleichsweise jungen Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg lernen Kinder beispielsweise gemeinsam in Lerngruppen mit individueller Förderung durch die Lehrkräfte. Das funktioniert an manchen Schulen besser, an manchen schlechter – ist aber eben auch noch ein recht neuer Ansatz in einem bisher eher dogmatisch agierenden System, das sich jahrzehntelang nicht gerade reformfreudig gab. Besonders die herbe Kritik der Philologen an dieser neuen Schulform gibt dabei zu denken, haben doch gerade die Gymnasien durch die Einführung von G8 enorm an der Leistungsdrucksschraube gedreht.
Nun muss man sich die Frage stellen: Eine Schule ohne Druck.. kann so etwas überhaupt funktionieren? Gibt es so etwas überhaupt? Ja, sagt der Verein Lernatelier der im Kraichtaler Stadtteil Oberöwisheim seit einigen Monaten eine freie Grundschule unterhält. “Zentrale Elemente unserer Vision sind selbstbestimmtes, verantwortungsvolles und nachhaltiges Lernen, achtsames Leben, sowie ein respektvoller Umgang in und mit der Natur.”… so steht es im Kurzkonzept der Schule geschrieben. In der Praxis bedeutet dies, dass jedes Kind in seinem eigenen Tempo voranschreitet, selbst vorgibt was es wie und wann lernen möchte.
Manch einer, der die traditionelle, klassische und lineare Schulbiographie einer deutschen Schule durchlaufen hat, wird nun vermutlich den Kopf schütteln und sich fragen wie das funktionieren soll, es vielleicht sogar als esoterische Traumtänzerei abtun. Das Misstrauen gegenüber jüngeren Generationen, siehe insbesondere die Missgunst und die Häme die den Friday for future Kids zuteil wird, ist bedauerlicherweise gesellschaftlich en vogue. Ein Schulsystem das auf Vertrauen und Eigenständigkeit setzt, führt daher vermutlich bei vielen zu Misstrauen und Argwohn.
Die drei Vorstände der Schule, Lena Bischoff, Elisabeth Schies und Sara Zimmermann sind sich aber sicher: Ihr Konzept kann nicht nur funktionieren, es funktioniert tatsächlich. Eine überschaubare Schülerzahl, individuelle Zuwendung und vor allem Vertrauen sind für sie der Schlüssel zu einer nachhaltigen, schulischen Bildung. “Wir glauben, dass Lernen freiwillig geschieht, in einem persönlich festgelegten Tempo, mit individuellen Anforderungen und Bedürfnissen, die es individuell zu begleiten und zu fördern gilt.”
Dies lässt sich ganz konkret an einem typischen Tagesbeginn an der Freien Schule festmachen: Nach einem gemeinsamen Morgenkreis, in welchem die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit haben über persönliche Befindlichkeiten, Wünsche, Fragen und wirklich jedes beliebige Thema zu sprechen, geht es mit dem Unterricht los. Jedes Kind entscheidet dann, was es heute lernen und was es heute erfahren möchte. Beispielsweise steht Mathematik oder Deutsch zur Auswahl. In kleinen Gruppen wird dann unterrichtet, mal frontal, mal in kleinen Teams, mal spielerisch und regelmäßig individuell und kindbezogen.
Natürlich müssen sich die studierten und regulär ausgebildeten Lehrkräfte dabei an den Bildungsplan für baden-württembergische Grundschulen halten, doch die Art und Weise der Umsetzung weicht gänzlich von denen staatlicher Regelschulen ab. Der Plan sagt nämlich im Grunde nur aus, was am Ende der vierjährigen Grundschulzeit erreicht sein muss, definiert aber nicht verbindlich Reihenfolge oder Art und Weise der Stoffvermittlung. Damit auch an der Freien Schule in Oberöwisheim alle Kinder am Ende über das vorausgesetzte Wissen verfügen, gibt es für jedes eine Lerndokumentation in Form eines gebundenen Buches. Darin stehen alle Ziele, von denen bis zum Ende der Schulzeit auch alle abgehakt werden sollten. Anders als an normalen Schulen ist das “Wann” und vor allem das “Wie” aber individuell umsetzbar. So gibt es durchaus Kinder die lieber das Rechnen vor dem Schreiben erlernen, den Stoff der traditionellen 4. Klasse schon viel früher interessant finden und manch anderes dafür lieber zurückstellen. Viele Wege führen zum Ziel, davon ist man in Oberöwisheim fest überzeugt. Ganz im Sinne des alten Frankie “I did it my way”
Wie alltagstauglich dieses Konzept am Ende tatsächlich ist, lässt sich derzeit noch nicht umfassend abschätzen, dafür ist die Schule einfach zu jung. Doch gibt es durchaus freie Schulen in Baden-Württemberg mit ähnlichen Schwerpunkten, die seit Jahren erfolgreich bestehen und deren Absolventen sich in keinster Weise hinter denen staatlicher Schulen verstecken müssen. Das Team des Lernatelier Kraichtal ist von der eigenen Vision, vom eigenen Konzept jedenfalls überzeugt, arbeitet derzeit sogar darauf hin, in Oberöwisheim auch eine Sekundarstufe zu etablieren. So könnten Kinder tatsächlich innerhalb dieses besonderen Systems bis zur mittleren Reife lernen.
Viele Fragen sind bis dahin selbstredend noch zu klären, insbesondere der finanzielle Aspekt und das monetäre Rückgrat der jungen Schule. Staatliche Förderung gibt es in den ersten Jahren nicht, auch danach sind die Zuschüsse deutlich geringer als an anderen Schulen. Das ganze, bisherige Kapital mussten die Mitstreiter und Verfechter des Projektes daher in privater Initiative auftreiben, Bürgschaften für die entsprechenden Kredite schultern. Unterstützt werden sie dabei vom Engagement und dem Vertrauensvorschuss der Eltern, sowie einem sehr fairen Vermieter der schulischen Immobilie in Oberöwisheim. Etwa 300 Euro pro Monat werden für den Schulbesuch an der Freien Schule pro Kind fällig, bei den gewollt kleinen Schülerzahlen ist das aber natürlich unterm Strich ein sehr überschaubarer Betrag. Eingedenk hoher Ausgaben wie Miete, Versicherungen, Gehälter und Co. ist die Schule daher auch froh über Zuwendungen, beispielsweise in Form von Spenden.
Auch wenn die Schule jung ist, noch viele Fragezeichen bestehen und die eigentliche Bewährungsprobe im Grunde noch aussteht, ist es doch ein faszinierender Gedanke und ein faszinierendes Konzept. Wer würde es sich nicht für sein Kind wünschen: Eine Schule ohne Druck.
Das ist ja ganz wunderbar, toll das es das Lernatelier hier im Kriachtal gibt und das die Kinder eine Schulzeit erleben können, die so viel mehr ist, als das was einem das staatliche System zu bieten hat. Der Text in diesem Artikel geschrieben erinnert mich ein bisschen an den Film von Bertrand Stern CARABA. Da geht es auch unter anderen um die Würde des Subjekts.
Bei all meinem Tun glaube ich an die Würde des Subjekts: Menschen sind also keine Objekte, die man nach Belieben formen kann; sie sind als Subjekte fähig, selbstbestimmt mit ihrem Dasein umzugehen. (Zitat von Bertrand Stern)
Ja, ist s.chon schön seinen Idealen als Lehrer zu Folgen. Aber wir können die staatlichen Schulen kaum von außen verändern und darum sollte es doch einfach gehen. LG Hans