Immer häufiger projizieren Menschen ihre Frustration, ihre Ängste, ihre Wut und ihre Unsicherheit auf die Politik. Am sichtbarsten und am ehesten greifbar ist besonders eine Figur, die zunehmend zur Zielscheibe des allgemeinen Unmuts wird: der Bürgermeister.
von Stephan Gilliar
Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen. Klingt nach einer grundlegenden Selbstverständlichkeit in der Erziehung eines jeden Kindes, wird aber zunehmend zu einem theoretischen Konstrukt, das im Alltag kaum noch von Bedeutung ist. Wie oft erlebe ich diese seltsame Wahrnehmung, dass Menschen sich nicht mehr als aktive Konstante im eigenen Leben begreifen, sondern nur noch als passives Element. Für alles Negative, das sich im Alltag ereignet, muss es immer einen Schuldigen geben, für jedes erlittene Unheil einen Verantwortlichen – jemanden, der haftbar ist. Man selbst spielt in keinerlei Kausalität irgendeine Rolle. Ich bin auf nassem Laub mit dem Fahrrad gestürzt – wer bezahlt mir nun den Schaden? Mein Kind schreibt in der Schule nicht nur gute Zensuren? Da muss der Lehrer daran schuld sein. Ich komme morgens nicht absolut reibungslos mit dem Auto zur Arbeit? Daran ist nur die verfehlte Verkehrsplanung der Behörden schuld. Die Grundsteuer ist gestiegen? Verdammtes Rathaus. Diese Liste ließe sich noch endlos lang fortführen. Quintessenz fast immer: Schuld haben immer die anderen. Ein bequemer Standpunkt, denn so muss man sich niemals selbst hinterfragen. Ein Sündenbock ist eben schneller benannt, als die eigene Unzulänglichkeit erkannt.
Geschenkt, das war schon immer so, ist vermutlich ein menschlicher Aspekt. Besonders auffällig ist jedoch zunehmend, dass derlei Gemotze und Gebruddel nicht mehr nur am Gartenzaun hinter vorgehaltener Hand oder nach zwei Bieren am Stammtisch postuliert werden, sondern die eigenen Fehleinschätzungen über Zuständigkeiten auch kackdreist, rotzfrech in aller Öffentlichkeit und im Netz nicht selten vor großem Publikum kundgetan werden. Besonders auffällig ist dabei die Benennung eines klassischen Schurken, eines omnipräsenten Schuldners, der für alle Missstände nicht nur in der Gemeinde, sondern auch darüber hinaus zur Verantwortung gezogen werden kann: der Bürgermeister. Das Gesicht und der Kopf der Verwaltung einer Kommune, jedermann bekannt, für jedermann greifbar und daher eine Projektionsfläche par excellence.
Das offen und unverhohlen dem Bürgermeister (wir haben uns der Einfachheit halber für die männliche Variante entschieden, es sind natürlich aber auch alle Bürgermeisterinnen gemeint) entgegengeschleuderte Misstrauen hat in vielen Fällen jedoch längst jedes Maß überschritten. Offene Anfeindungen im Netz, unverhohlene Drohgebärden, eine verrohte und respektlose Ansprache und – um wieder zu des Pudels Kern zu kommen – eine hoffnungslos fehlgeleitete Wahrnehmung der Kompetenzen und Möglichkeiten eines Bürgermeisters.
Lassen Sie uns daher an dieser Stelle einmal kurz und vereinfacht klarstellen, was ein Bürgermeister kann und was er nicht kann. Sie werden feststellen, dass die Liste der individuellen Möglichkeiten sehr viel kürzer ist, als manch einer annehmen mag.
Was ein Bürgermeister beeinflussen kann:
- Verwaltung: Er leitet die Gemeindeverwaltung und setzt Beschlüsse des Gemeinderats um.
- Haushalt: Er erstellt den Haushaltsentwurf, muss aber Genehmigungen durch den Gemeinderat einholen.
- Öffentliche Einrichtungen: Er kann kleinere Projekte wie Spielplätze, Bürgerfeste oder kleinere Instandhaltungen initiieren.
- Repräsentation: Er ist das „Gesicht“ der Gemeinde und setzt sich öffentlich für die Interessen der Bürger ein, etwa bei Verhandlungen mit Landkreisen oder Ministerien.
Was der Bürgermeister kaum beeinflussen kann:
- Gesetzgebung: Er muss Landes- und Bundesgesetze umsetzen, auch wenn sie unpopulär sind (z. B. Bauvorschriften, Steuerregelungen).
- Große Investitionen: Ohne Zustimmung des Gemeinderats und ausreichender Finanzierung kann er keine größeren Projekte realisieren.
- Externe Themen: Dinge wie Verkehrsprobleme auf Landesstraßen, fehlende Ärzte oder übergeordnete Infrastruktur (z. B. ÖPNV) liegen oft außerhalb seines Einflussbereichs.
Soweit so gut. Jetzt werden Sie vielleicht einwenden: Wer mit Hitze nichts anfangen kann, hat in der Küche nichts zu suchen. Damit haben Sie recht, aber andererseits auch nicht, denn wenn es Ihnen nur darum geht, einen dickhäutigen „Macher“ an der Spitze Ihrer Gemeinde zu installieren, ist die Einschätzung zwar zutreffend, aber gleichzeitig versperren Sie sich damit möglicherweise ja auch den Weg hin zu reflektierten, besonnenen, aber vielleicht auch introvertierten Persönlichkeiten, die für das Fortkommen ihrer Kommune deutlich besser geeignet wären. Der Ton macht die Musik, das war schon immer so und das wird doch immer so bleiben. Kritik ist in Ordnung, Schmähkritik niemals. Eine reflektierte Rückmeldung ist jedem ernsthaften Politiker willkommen, aber einfach nur emotionsgeladenes Draufhauen kann Schaden anrichten – denn auch „die da oben“ sind Menschen und mit einem höchst eigenen Seelenleben ausgestattet. Sie können von einem Kommunalpolitiker nicht das gleiche emotionale Rüstzeug erwarten wie von einem Bundespolitiker.
In vielen Fällen sind das einfach nur Menschen, die sich für ihre Gemeinde einsetzen und etwas bewirken wollen. Wenn sie aber stattdessen einfach nur unentwegt im Sperrfeuer stehen, eine Ladung Jauche nach der anderen über sich niedergehen sehen, wer wird sich dann in Zukunft noch finden, diesen zwar gut bezahlten, aber auch höllisch herausfordernden und schwierigen Job zu ergreifen? Das ist keine hypothetische Frage, sondern eine handfeste Herausforderung unserer Zeit. In unzähligen kleinen Gemeinden findet sich bereits niemand mehr, der bereit ist, sich dort oben in die dünne Luft zu begeben, zur Projektionsfläche und zur Zielscheibe für den Unmut mancher zu werden. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen als Lokaljournalist sage, dass es auch in unserem Hügelland nicht wenige Bürgermeister gibt, die im besten Fall frustriert von dieser Entwicklung sind, im schlimmsten Falle davon bereits krank wurden und sich längst auf dem inneren und in manchen Fällen dem äußeren Rückzug befinden.
Letztlich ist es eine Frage des Respekts. Es geht nicht um Hochachtung vor dem Amt oder gar Unterwürfigkeit, aber um Respekt davor. Um Respekt vor der Verantwortung, um Respekt vor der Leistung, dorthin gelangt zu sein, um Respekt vor den immer größeren Herausforderungen, die in dieser Position gemeistert werden müssen.
Und wenn Sie dann aber doch das Gefühl haben, es selber besser machen zu können? Kein Ding, die Voraussetzungen sind überschaubar: Wenn Sie volljährig sind und in Deutschland leben, steht Ihrer möglichen Wahl irgendwo zwischen Kiel und Konstanz nichts im Wege. Aber denken Sie dran – in acht Jahren werden Ihre Karten wieder neu gemischt, wenn Sie dann noch können.
Der Niedergang der Gemeinden, überall hebt man zu Mondpreisen neue Wohngebieten aus und der Stadtkern ist tot ! Zum Schluss lebt jeder smart in seinem Bunker und sozial Teilhabe hängt vom Geldbeutel ab !! Tja das alles kann man nicht nur dem Bürgerdings anhängen, aber er könnte mal ehrlich darauf hinweisen 🙃💪😉✅
„Wie oft erlebe ich diese seltsame Wahrnehmung, dass Menschen sich nicht mehr als aktive Konstante im eigenen Leben begreifen, sondern nur noch als passives Element.“
Das erlebe ich auch. Dies jedoch den Menschen allein vorzuwerfen, halte ich für falsch!
Die Politik regiert den Menschen zunehmend bis in den letzten kleinen Aspekt ihres Privatlebens. Es findet eine systematische Erziehung der Bürger zur Unmündigkeit und zur Abhängigkeit vom Staat statt.
Auch der Sprachgebrauch gegenüber dem eigentlichen Souverän im Staat ist entlarvend. Sind die Menschen mit der Politik unzufrieden, wird gerne mal behauptet, die Leute hätten es „nicht verstanden“ und man müsse die Politik „besser erklären“.
Ich heiße in keinem Fall gut, dass man seinem Unmut gegenüber dem Bürgermeister oder den Gemeinderäten freien Lauf lässt. Aber es ist nun einmal leider auch ein Symptom dieser Art der Politik, dass der unmündige Bürger Dinge nicht selbst angeht und Schuldige bei „denen da oben“ sucht.
Deshalb mein Plädoyer für mehr Eigenverantwortung und eine Politik auf allen Ebenen, die diese auch zulässt!