Mit dem Rücken zur Wand

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Nicht selten bis zur Erschöpfung und manchmal auch darüber hinaus arbeiten Dr. Martina Grzenkowski und das Ärzte- und Pflegeteam in der Zentralen Notaufnahme der Fürst-Stirum-Klinik in Bruchsal. Das System der Notfallversorgung ist in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten, die Gründe dafür sind vielseitig. Fest steht: Lange hält es diesem Druck nicht mehr stand.

Es ist früher Vormittag in Bruchsal – die Notaufnahme der Fürst-Stirum-Klinik ist weitgehend leer. Noch hat die “Rush Hour” nicht eingesetzt, das größte Patientenaufkommen trudelt hier in der Regel um die Mittagszeit, dann wieder am späten Nachmittag, aber insbesondere in der Nacht ein. Dann kann es hier voll werden, so richtig voll. Patient um Patient betritt den Notfallbereich im Erdgeschoss der Klinik, ein jeder in der festen Gewissheit, unaufschiebbare medizinische Versorgung zu benötigen, die keinerlei Aufschub duldet.

Darunter sind tatsächlich sehr viele, echte Notfälle… Schlaganfälle, Herzinfarkte, schwere Infektionserkrankungen, Vergiftungen oder Unfälle – Menschen, die ohne jeden Zweifel schnelle und akute Hilfe brauchen. Aber eben auch solche, deren Beschwerden problemlos noch am nächsten Werktag vom Hausarzt oder auch einem niedergelassenem Facharzt behandelt werden können. Nicht immer sind diese beiden Kategorien spontan unterscheidbar, daher ist es an den Ärzten, in der Notfallaufnahme eine Ersteinschätzung für die medizinische Versorgung vorzunehmen. Tagsüber gibt es noch die Möglichkeit leichte Notfälle an das hausärztliche MVZ in der Fürst-Stirum-Klinik weiterzuleiten und dadurch die ZNA zu entlasten. Kommen jedoch zu viele Patienten in die Notaufnahme, kann dieses System ins Stocken, im schlimmsten Fall zum Erliegen kommen. Die personellen Kapazitäten sind beschränkt, es gibt nur eine gewisse Anzahl an Betten, die belegt werden können, nur eine gewisse Anzahl an Pflegern, Ärzten, Behandlungsräumen.

Je größer dieser Stau wird, desto länger wird die Wartezeit, desto höher kochen mitunter die Emotionen, desto mehr steigt der Druck. Zudem wird in der Notfallaufnahme nicht chronologisch behandelt, es geht nach Dringlichkeit, nach medizinischer Notwendigkeit – zwei Faktoren, die nicht jeder der Wartenden bereit ist nachzuvollziehen. Es entsteht eine Situation und eine Atmosphäre, die für niemanden von Vorteil ist, die niemandem gerecht wird. Weder den hilfesuchenden Menschen, noch dem überlasteten Personal, das damit zurechtkommen muss. “Wir haben hier in ein Aufkommen kranker Menschen, das ist Wahnsinn” sagt die erfahrene Ärztin. In den beiden zentralen Notaufnahmen der KLK Kliniken in Bretten und Bruchsal wurden im vergangenen Jahr nahezu 50.000 Notfälle versorgt.

Es gibt viele Gründe, warum sich etwas verändern muss, warum es nicht mehr so weitergehen kann, erzählt mir Dr. Martina Grzenkowski, ärztliche Leiterin der zentralen Notaufnahme in ihrem kleinen Büro, drei Stockwerke über dem niemals endenden Trubel der ZNA. Die Wände hinter ihr erstrahlen in jenem seltsamen Gelb, das in den 70ern einmal modern gewesen sein mag, heute aber irgendwie befremdlich wirkt. Wir sitzen in einem der wenigen Trakte der Klinik, die noch auf ihre Modernisierung warten. Alles wirkt hier ein bisschen aus der Zeit gefallen, dafür ist es ruhig genug für ein Interview. Ein Interview, das wir bereits verschieben mussten, weil beim letzten Termin der Wellengang in der Notaufnahme so hoch war, dass noch nicht einmal Luft für ein kurzes Gespräch blieb.

Symbolbild

Martina Grzenkowski ist ebenso ruhig wie der Flur vor ihrem kleinen Büro. Wach schenken mir ihre klaren Augen hinter der runden Brille ihre volle Aufmerksamkeit. Lediglich die Ringe darunter erzählen von Tagen und Nächten, in denen sie vom Sog und der Hektik ihrer immer an vorderster Front stehenden Abteilung umtost wird. Hinter ihr auf der Stuhllehne hängen ihre Straßenklamotten, die sie weit weniger trägt, als es ihr lieb sein dürfte. In den 23 Jahren, die sie nun in der Bruchsaler Klinik arbeitet, hat sie die meiste Zeit in der Notaufnahme verbracht. Wer hier arbeitet, braucht unweigerlich ein dickes Fell, muss mit Stress umgehen, muss mit seinen Reserven haushalten können.

Gerade dann, wenn die zentrale Notaufnahme der Fürst-Stirum-Klinik, die gemeinsam mit der in Bretten für den kompletten nördlichen Landkreis Karlsruhe da ist, aus allen Fugen ächzt, wenn Menschen hier viele Stunden verbringen müssen, auf Unterbringung oder Versorgung warten, steigt der Druck wie in einem Dampfkessel Stück für Stück. Dann wird die Stimmung bei manchen gereizter, dann fallen auch harsche Worte, Beleidigungen, manchmal sogar in physische Gewalt mündend, die nur mit dem Eingreifen der Polizei in den Griff zu bekommen ist. Dass sich Personal für diese Art der medizinischen Versorgung in diesem modus operandi nur schwer akquirieren lässt, dürfte dabei kaum verwundern. Die Arbeitszeiten sind eher unattraktiv, die Arbeit selbst intensiv, fordernd und hart. Martina Grzenkowski fühlt sich dazu berufen, mag ihren Job in der Notaufnahme, aber sie kann auch gut verstehen, dass so mancher Kollege diesem Druck nicht standhält und irgendwann hinschmeißt. Supervision und Zuspruch ihrem Team gegenüber, sind in solchen Zeiten daher wichtig. Dafür hält das Team in der Notaufnahme auch zusammen, eine eingeschworene und zusammengeschweißte Truppe aus Kämpfern an vorderster Front. Wie sehr sie sich mögen, wie sehr sie zusammenhalten, spürt man beim anschließenden Fototermin sogar als Auswärtiger unweigerlich.

Doch wo liegt eigentlich genau das Problem, wo der Hase im Pfeffer? Was sich denn in den letzten Jahren so gravierend verschlechtert hat, dass die Notaufnahmen derart an ihr Limit und darüber hinaus kommen, möchte ich von Dr. Grzenkowski wissen. Die Antwort darauf ist nicht leicht zu geben. Um die Quintessenz gleich vorwegzunehmen: Es ist das Ergebnis zahlreicher Fehlentwicklungen, an deren Ende die Notaufnahme als letzter Halt, als letzter Fels in der Brandung steht.

Hier ein paar der größten Kiesel, deren Gewicht zusammen viel zu schwer auf dem Rücken des medizinischen Personals der Notaufnahme lastet.

Da wäre die stetig sinkende Zahl an niedergelassenen Hausärzten. Es scheint zudem einen Mangel an Fachärzten in der Region zu geben, da zahlreiche Patienten mit Einweisung für ein prinzipiell im niedergelassenen Bereich abzuklärendes Beschwerdebild kommen. Viel zu lange Wartezeiten für einen entsprechenden Termin, die den Menschen oft keine andere Wahl lassen, als mit ihren Beschwerden die Notaufnahme aufzusuchen. Nicht selten schicken die ihrerseits überlasteten, verbleibenden Hausärzte ihre Patienten auch im Zweifelsfall direkt in die Notaufnahme weiter… ein Teufelskreis.

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Notaufnahme der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal

Eine Rolle spielt auch sicher das durch den Fachkräftemangel stark dezimierte und über Gebühr ausgelastete Pflegepersonal in Reha- oder Pflegeeinrichtungen. Dieses ist bei akuten medizinischen Problemen oft überfordert, ruft im Zweifelsfall den Rettungsdienst, um die betroffenen Patienten direkt ins Krankenhaus zu bringen. Dort landen sie zuerst – kaum überraschend – in der zentralen Notaufnahme.

Zusätzlicher Ärger kommt auch von einer ganz anderen “Front”: Durch die jüngste Entscheidung des Bundessozialgerichts, wonach “Poolärzte”, also nicht niedergelassene Vertragsärzte, die freiwillig am ärztlichen Bereitschaftsdienst teilnehmen, voll sozialversicherungspflichtig sind, hat die kassenärztliche Vereinigung die Notbremse gezogen und die entsprechenden Verträge nicht mehr verlängert. Infolgedessen sind die ärztlichen Notfallpraxen und Versorgungszentren, die eigentlich die Notaufnahme entlasten sollen, nur noch eingeschränkt handlungsfähig, mussten beispielsweise ihre Bereitschaftszeiten schon stark einschränken.

Als wäre all das noch nicht genug, hat sich auch das Verhalten der Menschen in den letzten Jahren stark gewandelt. Unsicherheit in der Selbsteinschätzung, ein gesteigertes – nicht immer zielführendes Körperbewusstsein und nicht selten fehlerhafte Selbstdiagnosen durch Suchmaschinen wie Google, lassen viele Menschen auch niederschwelliger die Notaufnahmen aufsuchen. Kein Wunder, wenn die ersten Treffer einer Netzsuche aus jedem Husten eine potentiell tödliche Krankheit konstruieren.

Wie kommen wir aus diesem Tal der Tränen wieder heraus? Für Martina Grzenkowski gibt es nur zwei probate Mittel, um diese Abwärtsspirale zu stoppen. Der Beruf des Arztes in der Klinik muss wieder attraktiver werden, auch die Übernahme bzw. die Niederlassung von Hausarzt- oder Facharztpraxen muss einfacher und mit mehr Perspektiven und weniger Bürokratie möglich werden. Zudem müssen auch außerhalb der regulären Sprechzeiten medizinische Anlaufstellen für Menschen geschaffen werden, die auch bei weniger schweren Beschwerden aufgesucht werden können.

Der wichtigste und zentrale Punkt für Dr. Grzenkowski ist aber eine bessere Patientensteuerung. Es müssten handlungsfähige Instanzen generiert werden, die eine Unterteilung von Patienten in echte Notfälle und aufschiebbare Fälle ermöglichen – noch bevor diese in der Notaufnahme vorstellig werden. Das wäre beispielsweise mit einer Videoschalte über Computer oder Smartphones denkbar, durchgeführt von versiertem medizinischen Personal, das für solche Ersteinschätzung entsprechend geschult ist. Wichtig wäre in jedem Fall zudem die Verbindlichkeit einer solchen Einstufung, denn wenn es jedem Patienten am Ende dann doch selbst überlassen bleibt – trotz anderweitiger Empfehlung in der Notaufnahme vorstellig zu werden – ist damit nichts gewonnen. Einhergehend damit müsste auch die Haftungsfrage entsprechend geregelt werden, damit das medizinische Personal solche Entscheidungen auch mit entsprechender Rückendeckung treffen kann.

Wenn in die Problematik keine Bewegung kommt, wird das System früher oder später an die Wand fahren, da ist sich Martina Grzenkowski sicher. Wenn das Personal auf Verschleiß fährt, wird die Anzahl der behandelnden Ärzte, der Pflegerinnen und Pfleger immer weiter sinken, was die Versorgungssituation am Ende nur noch weiter verschlechtern wird. Dass es so weit kommt, glaubt Frau Dr. Grzenkowski nicht. “Ich bin Optimist” sagt sie und auch “Die Politik hat das Problem mittlerweile erkannt”. Tatsächlich hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach erst vor wenigen Tagen einen Plan mit zentralen Eckpunkten für die Verbesserung der Notfallversorgung angekündigt, mit einer verbesserten Patientensteuerung, einer besseren Vernetzung mit den Rettungsleitstellen, der Stärkung der bundesweit einheitlichen notdienstlichen Akutversorgung, sowie die zentrale Einrichtung Integrierter Notfallzentren.

Pläne, die besser heute als morgen umgesetzt werden sollten, denn unterdessen arbeiten Notaufnahmen wie die in der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal weiter auf Verschleiß. Wenn es am Ende auch hartgesottene Kämpferinnen wie Dr. Martina Grzenkowski zu viel werden sollte, dann wird die Not auch dort groß, wo sie eigentlich gelindert werden sollte.

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3 Gedanken zu „Mit dem Rücken zur Wand“

  1. Was auch dringend verbessert werden muss ist die Erreichbarkeit der 116 117. Hat man massive, akute Beschwerden und wird nach dem man in die Warteschleife gestellt wird, dann der Anruf abgebrochen mit der Bitte es später noch einmal zu probieren läuft in diesem System, das eigentlich entlasten sollte, gehörig was schief. Mir ist es so passiert und nach fast einer Stunde probieren fragt man sich, warum das alte gut funktionierende System, als man noch direkt beim regionalen ärztlichen Notdienst anrufen konnte, abgeschafft wurde. Auch der Fachkräftemangel in den Krankenhäusern wundert mich nicht. Wer selbst schon im Krankenhaus auf Station lag und den extrem hohen Arbeitsdruck der Ärzte und des Pflegepersonals miterlebt, kann gut nachvollziehen wie unattraktiv die Berufe für Berufseinsteiger sind und warum viele den Beruf wechseln. Ich persönlich wollte unter diesen Bedingungen auch nicht für Menschenleben verantwortlich sein.

  2. Der Name dieser informativen Webseite wäre als Auszeichnung hier mehr wie verdient: (Hügel)Helden, das sind im wahrsten Sinne des Wortes die Mitglieder der Notaufnahme. Danke für die unschätzbare Arbeit des Notaufnahmeteams in Brusl. Und Danke für diesen sehr gut geschriebenen, ausführlichen Artikel.

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