Kein Katar in meinem Kraichgau?

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Schätzungsweise 15.000 Tote haben die Vorbereitungen auf die Fußball WM in Katar bisher gefordert. Die Frage: „WM feiern oder boykottieren?“ lässt sich mit jedem verstreichenden Tag bis zum Anpfiff daher immer schwieriger ignorieren. Wie sehen Sie das? (Umfrage)

Eine Meinung und eine Frage von Stephan Gilliar

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Zumindest fühlte es sich genau danach an. Seit drei Jahren verliert die “Wohlfühlblase”, in der die meisten von uns ihr ganzes Leben verbracht haben, immer mehr Luft. Auch wenn die Kacke schon vorher am dampfen war, holt uns ihr Geruch immer mehr ein und katapultiert uns in eine Realität, die wir im Grunde doch gar nicht sehen möchten. Der Eindruck, den man momentan vom Zustand unserer Welt erhält, ist erbarmungswürdig. Der Klimawandel mutiert von einer fernen Dystopie zur glühend heißen Realität, eine Pandemie überrennt den Globus wie eine Feuerwalze und die hässliche Fratze des Krieges zeigt sich auf europäischem Boden. Wir diskutieren ernsthaft über Stromausfälle epochalen Ausmaßes, über Kältewinter und sogar über atomar-apokalyptische Szenarien, die wir mit dem Tanz auf der Rasierklinge 1962 hinter uns glaubten. Und als ob das alles nicht reichen würde verkümmern unsere Meere, schmelzen unsere Gletscher, schwingen sich Diktatoren und Despoten überall auf der Welt zu Macht und Ruhm auf. Kurzum: Es ist zum Kotzen!

Keine Ahnung wie es Ihnen geht, aber bei mir tanzt der tägliche Reigen schlechter Nachrichten mittlerweile auf wundgetretener Haut. Als Journalist komme ich nicht umhin, mich täglich mit dem Zustand der Welt vertraut zu machen, das gehört nun einmal zum Job. Wie gerne würde ich auch aus der Realität ausbrechen, mich alternativen Fakten und einfachen Erklärungen hingeben, doch wann hat Verdrängung schon jemals irgendein Problem gelöst? Wer es in diesen Tagen schafft an das Gute im Menschen zu glauben und an eine versöhnliche Fügung der Dinge, dem gilt mein höchster Respekt und mein brennender Neid.

Wobei, lassen Sie mich eine Sache revidieren… Verdrängung kann auch ein Segen sein. Wer es schafft den Zustand der Welt hin und wieder auszublenden, der schützt vermutlich aktiv seine psychische Gesundheit. Ich kann es niemandem verdenken, der derzeit überschwänglich feiert, lebt, liebt und das gute Heute dem sorgenbehafteten Morgen vorzieht. Denn wenn wir ehrlich sind haben wir auf letzteres ohnehin kaum echten Einfluss, zumindest nicht auf Makroebene.

Wir halten fest: Zerstreuung ist also eine durchaus feine Sache und sie wird uns in Kürze per Glotze direkt in das heimische Wohnzimmer geliefert. Noch recht genau einen Monat, dann beginnt die Fußball-WM im fernen Katar. Ein paar Wochen pure Seligkeit, feiern mit Freunden, Jubeln und Fluchen und das Anfeuern der deutschen Mannschaft. Glänzende Augen, ein kühles Bier in der Hand, vielleicht eine verpönte Kippe zwischen den Fingern … Himmel, wie ich mich danach sehne.

Doch noch nicht einmal das ist in dieser veritablen Scheiß-Dekade ohne Wermutstropfen möglich und dieser Tropfen hat es zudem noch in sich – könnte gar ein Fass füllen. Wer die Feelgood-Kulisse der diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft in Katar genießen möchte, kommt nicht umhin zu bemerken, das selbige auf einem durch und durch blutgetränkten Fundament steht. Das mag pathetisch klingen, greift aber angesichts von etwa 15.000 Menschen, die in sklavenähnlicher Ausbeutung während der WM-Vorbereitung ums Leben kamen, vermutlich sogar zu kurz. Menschenleben scheinen im autoritären Wüstenstaat kaum von großem Wert. Reichtum, der damit einhergehende Einfluss und die sich daraus speisende Macht, scheinen bei den Herrschenden zu der Erkenntnis geführt zu haben, nichts und niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen, alles, aber auch alles tun zu können. Sie können zu gar keinem anderen Schluss kommen, denn wir alle schauen weg, aufbrandende Kritik bleibt ein zahnloser Tiger. Es scheint ganz einfach… wir brauchen und wollen, was sie dort unten anbieten und haben. Sei es Gas, Öl oder in diesem Fall Amüsement und Zerstreuung. Dafür schauen wir weg, verdrängen, lassen Fünfe gerade sein …oder eben 15.000.

Wenn also in einem Monat der erste Ball rollt, muss sich jeder die Frage stellen, wo er dann ist? Sitzt er zu Hause und sieht sich das Spiel in der Glotze an, sitzt er in der Kneipe und bejubelt mit Freunden das Match auf großer Leinwand? Oder ignoriert er die diesjährige WM, um damit still ein Zeichen zu setzen?

Eine schwierige Frage, denn selbstredend sind die katastrophalen Bedingungen für Gastarbeiter im Vorfeld der WM keineswegs eine Anomalie auf dieser Welt. Wenn wir es genau nehmen würden, müssten wir auch jegliche Unterhaltungselektronik die seltene Erden enthält meiden, jegliche Produkte der Modeindustrie aus Kinderarbeit. Menschenrechte werden nicht erst seit gestern auf dieser Welt mit Füßen getreten. Hinzu kommt, dass unsere durch Pandemie und Energie-Krise gebeutelten Gastwirte dringend auf das Publikum und die damit verbundenen Einnahmen angewiesen sind. Manche von Ihnen sagen dennoch „Nein zur WM“ und schließen sich der Bewegung #KeinKatarinmeinerKneipe – einem Boykott der Spiele an. Stand heute lassen sich die teilnehmenden Kneipen aber mit einer Lupe suchen, vom Kraichgau aus gesehen sind die nächsten in Heidelberg und Karlsruhe verortet, wohlgemerkt jeweils nur eine pro Stadt. Das kann natürlich noch mehr werden, von einem Flächenbrand ist allerdings eher nicht auszugehen.

So bleibt die Fragestellung bedauerlicherweise derart komplex, dass die Antwort darauf nur jeder Einzelne für sich selbst geben kann. Schaue ich mir die WM an und nehme hin, unter welchen Umständen sie ausgetragen wird oder ignoriere ich den Hype in diesem Jahr und gebe den Verantwortlichen damit zu verstehen, das Kommerz nicht über allem stehen darf?

Wenn Sie erlauben, gebe ich die Frage direkt an Sie weiter. Selten war ich so gespannt auf das Ergebnis einer Umfrage, wie das der Folgenden:

Wie stehen Sie zur Fußball-WM in Katar?

  • Ich boykottiere diese WM (91%, 230 Votes)
  • Ich sehe mir die Spiele an (9%, 24 Votes)

Stimmen insgesamt: 254

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Hinweis: Aus Gründen des Datenschutzes setzt unser Umfrage-Tool keine Cookies oder Tracker, mehrfache Abstimmungen sind daher technisch gesehen möglich. Wir bitten daher aus Gründen der Fairness darum, nur eine einzige Stimme abzugeben.

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6 Gedanken zu „Kein Katar in meinem Kraichgau?“

  1. Ich gebe Ihnen in allem recht. Man muss aber bedenken, dass Gelder aus Katar in fast allen größeren Firmen in Deutschland stecken. Oftmals werden über 50 % der Aktien bei AG’s von den Reichen aus Katar gehalten. Der FC Bayern München lebt von den Geldern aus Katar. Wie kann es sein, dass überall von den Katarern profitiert wird, der DFB hat ja auch nichts gegen die Austragung dort unternommen, und die Gastwirte und ganz normalen Fußballfans sollen es jetzt richten? Irgendwie versteh ich das nicht.

  2. Tja, ich werde die Fußball – Spiele nicht verfolgen, weil es mich NICHT mehr interessiert. Es hat mich einmal interessiert aber das ist längst Vergangenheit. Und mein Verhalten deshalb als Boykott zu bezeichnen ist ein bisserl weit her geholt.

  3. Ich sehe nie Fußball schlicht aufgrund eines akuten Desinteresse an diese Sportart. Als „Boykott“ kann man es also nicht bezeichnen, schade nur, dass die Abstimmung dies nicht berücksichtigt.

  4. Jeder muss sich über die Konsequenzen seines Tuns bewusst sein.
    Wer bei Amazon bestellt, schließt den Laden um die Ecke.
    Wer bei kick kauft, kauft Kinderarbeit mit.
    Wer Katar…
    Das lässt sich unendlich fortsetzen.
    Nach der Globalisierung kommt die Regionalisierung
    oder gar nix mehr…

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