Die goldenen Jahre der Dorf-Disco

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Ich vermisse meine Disse

Ein nostalgischer Blick von und mit Philipp Martin

Freunde, die Älteren unter euch werden vermutlich mitfühlend mit dem Kopf nicken, wenn ich von jener Phase im Leben eines Mannes berichte, in der er einfach nicht mehr um die harte Wahrheit herum kommt: Halbzeit, ab jetzt läuft die zweite und letzte Hälfte des Lebens. Es ist die Zeit im männlichen Lebenszyklus, in der man sich einen Sportwagen kauft, sich eine jüngere Geliebte anlacht und wehmütig an seine jungen Jahre zurückdenkt. Mangels Kohle und Attraktivität entfallen die ersten beiden Optionen für mich, bleibt nur der Blick durch die rosarote Brille zurück in meine Sturm und Drang Zeit. In der Einsamkeit des Lockdown fallen mir da besonders ein paar Namen ein, die ich zwischenzeitlich schmerzlich vermisse: Topsy, Malibu, Amun, Midnight, E1, Schwimmbad-Club, Mirage, Bounty,…

Die alten Säcke unter euch werden längst geschaltet haben, bei diesen Namen handelt es sich um die fatalen Wirkungsstätten unserer längst vergangenen Jugend – es sind alles Namen von Diskotheken, die meist schon vor Urzeiten das Zeitliche gesegnet haben. Mensch Freunde, könnt ihr euch noch daran erinnern, wie es früher war am Samstagabend gemeinsam auszurücken? Mit Flaumbart, peinlicher Friese, Puffärmeln, Karottenhosen und diesen völlig überdimensionierten Jacketts? Danach rein in den Golf, den Fiesta oder den Ascona vom Vadder und ab an den Dorfrand oder ins Gewerbegebiet. Kennt ihr noch das Gefühl, wenn sich die abgerannste Metalltür öffnete und sich eine Kakophonie aus Gejohle, Gelächter und völlig übersteuerter Mucke von Modern Talking, OMD, Sandra oder Baltimora (Tarzan Boy – ohahohahihahihiohahoha) über euch ergoss? Dazu dieser einzigartige, schale Geruch von ausgelaufenem Bier auf dreckigem Fliesenfußboden und eine Qualmmixtur aus Ernte23, HB und Rothändle? Heute würde mich das vermutlich alles ankotzen, damals war es einfach nur geil.

In jedem und ich meine wirklich in jedem Dorf, gab es eine Dorfdisko. Meistens waren diese in Gasthäusern, Nebenräumen oder in Kellern untergebracht… nix besonderes.. allesamt düstere Löcher mit ellenlangen Theken, der obligatorischen, kopfstehenden 5 l Flasche Asbach, einer trüben Drei-Kanal-Lichtorgel und vielen schummrigen Ecken für sündige Momente. Ja, liebe Kinder, genau in diesen Ecken blitzten die ersten Funken eurer Existenz zuckend auf – eure Alten waren auch mal jung. Jedes Wochenende, das gleiche Ritual. Ankommen, Rauchen, Trinken, Tanzen und wer nicht schnell genug vom Acker zog, wurde später noch Zeuge von mancher zwischendörflicher oder zwischenvereinlicher Rivalität und anschließendem Gebaddsche auf dem Parkplatz. 

Heute hört man zwar bezüglich der noch existierenden Diskotheken immer noch von besagtem Gebaddsche, meist aber gepaart mit Messerangegriffen und ein paar schwerverletzten Kontrahenten in letzter Konsequenz. Die liebenswerten Asi-Zeiten der Dorfdisko sind vorbei, generell hat sich das Geschäftsmodell Disco auf dem Land wohl weitgehend überlebt. Die großen Tanztempel sind längst verschwunden, zuletzt das A5 bei Karlsdorf, der Apfelbaum in Hagsfeld und auch im Kinky in Sinsheim war das Thema Insolvenz in den letzten Jahren immer wieder präsent. Die Fabrik in Bruchsal schlägt sich wacker, blutet aber durch die Corona-Pandemie und die unzähligen kleinen Dorfdiskotheken haben zu 95 % den Sprung in die Gegenwart nicht geschafft. Vor fast genau fünf Jahren zog auch der Nachfolger des kultigen E1, praktischerweise tituliert als E2, nur wenige Monate nach dem Reboot die Reißleine, seither dreht sich auch in Eppingen keine Discokugel mehr. Der Skippie-Club in Zaberfeld, Jahrelang betrieben durch Disco Legende Charlie Dickemann, den gibt es übrigens immer noch, heute unter dem Namen Labbaduddl.

Was bleibt, sind schöne, bunt gefärbte Erinnerungen, verblasste Polaroids, die junge, pickelige Gesichter unter wilden Locken zeigen und natürlich unsere Musik, die wir –  unbeobachtet geglaubt –  im Autoradio voll aufdrehen und dazu ekstatisch die Pobacken zucken lassen.  aber nicht zu lange, Autsch, mein Ischias… verdammtes Altwerden.

PS: Wer das Gefühl von damals zumindest noch einmal hören möchte, dem rate ich in diese alten Mitschnitte von Charlie 2000 von Ende der 90er reinzuhören. Charlie war schließlich Mister Disco, er hat in Süddeutschland die Diskothek geadelt, gefördert und nicht zuletzt einige davon besessen.

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9 Gedanken zu „Die goldenen Jahre der Dorf-Disco“

  1. Tja, Herr Martin da werden doch Erinnerungen wach. Ich verbrachte meine Disco-Zeiten gerne in Östringen in der Powerslide von Manni Oettinger (wissen Sie was aus dem geworden ist?) Damals habe ich auch mitgeholfen beim Umbau und der Neudekoration. Der Lohn hierfür ein paar Kisten von dem Pils welches eine damals angesagte Brauerei aus Warstein in der Motorsportszene als Werbepartner angepriesen hat. Von der Formel 1 bis hin zu den Tourenwagen. Ein weiterer Nutzniesser war der ehemalige Bruchsaler Rennstallbesitzer Jörg Obermoser. Die Disco existiert schon seit längerer Zeit leider nicht mehr Schade eigentlich. Ich hatte viel Spaß am Donnerstagabend. Nein, nicht auf der Tanzfläche sondern nur beim „schauen“ was sich da so alles auf der Tanzfläche bewegt.

  2. ach wie schön den Beitrag gelesen und schon war ich zurück in meiner Jugendzeit danke für diesen Bericht zu dieser tristen Zeit

  3. Wenn wir schon dabei sind dürfen wir auch nicht den „Arsch“ in Bruchsal-Untergrombach, das Sit Inn in Bruchsal, Tanzbar Traube in Neuthard und das Europa in Karlsdorf (später Bugs Bunny) vergessen. Mit dem Mofa, Sonntag Nachmittags, als 15 Jähriger pubertierender Jüngling zum Mädels gucken angesteuert. Später noch das Happy Night oder das Round up… oh Gott…. lang ist es her….. die legendäre Spitze und damals noch die alte Rockfabrik dürfen natürlich auch nicht fehlen.

  4. Das Trianon in Ötigheim bei Rastatt. Bis vor Corona gab es sogar zweimal im Jahr Trianon-Revivals in der Ufgauhalle in Rheinstetten-Forchheim mit der Original-DJ/LJ-Besetzung von damals…

  5. In Östringen gab es das Powerslide als noblere Disco, den Sonnenkeller für Pop und das Renaisance für die Hard-Rocker. Für einen so kleinen Ort für jeden was. Irgendwie war immer was geboten. Wir brauchten keinen Jugendclub. Schade eigentlich, dass sich die jetzige Jugend nicht so ungezwungen irgendwo treffen kann.

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