Vor 60 Jahren wandelte sich Östringen von einem armen Bauerndörfchen zu einem der ersten reichen Industriestandorte der Region. Der Grund dafür… dünner als ein menschliches Haar.
Eine Reise in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts in unserer Heimat ist auch eine Reise in einfachere Zeiten. Der Kraichgau, damals wie heute eine der großen Kornkammern des Landes, zählte nicht gerade zu den wohlhabenden Regionen. Die Wirtschaft war nahezu durchgehend geprägt von Vieh- und Ackerbau, die Dörfer dementsprechend vom landwirtschaftlichen Leben geprägt. Auch Östringen, damals dünn besiedelt und bettelarm, bestand im Grunde nur aus einer großen Ansammlung bäuerlicher Betriebe und einfachen Handwerkern. Durch den damaligen Niedergang der einstmals wichtigen Tabakindustrie, befand sich auch die Landwirtschaft in einer Umbruchphase, mit all den damit einhergehenden Schwierigkeiten. Sparen war angesagt, es galt heller und Pfennig doppelt und dreifach umzudrehen, die Östringer führten ein einfaches Leben. Wer sich darüber ein Bild machen möchte, findet im Ruhbenderaus in Östringen einen faszinierenden und spannenden Einblick in das Östringen vergangener Tage und all die Fertigkeiten, über die die Menschen auf dem Lande trotz aller Widrigkeiten verfügten.
Die große weite Welt, sie war weit entfernt vom kleinen Östringen, bis sie auf einmal ganz plötzlich vor der Haustür stand. Vor etwa 60 Jahren entschied der britische Chemiekonzern ICI, einer der größten Chemiekonzerne der Welt zu jener Zeit, ein neues Faserwerk in Östringen zu errichten. Dies markierte einen historischen Wendepunkt für die Stadt.
Der damalige Östringer Bürgermeister Hermann Kimling setzte sich intensiv für die Ansiedlung des Faserwerks ein – mit Erfolg. Im Dezember 1963 erfolgte der erste Spatenstich. Hunderte Bauarbeiter aus Deutschland und viele Gastarbeiter aus ganz Europa arbeiteten unermüdlich an dem für damalige Verhältnisse gigantischen Projekt. Nach 18 Monaten Bauzeit waren die Produktionshallen sowie das Verwaltungs- und Kantinengebäude fertiggestellt, die Baukosten beliefen sich auf stolze 200 Millionen Deutsche Mark. Am 22. April 1966 fand schließlich die feierliche Eröffnung des ICI Faserwerks statt.
Im 3-Schicht-Betrieb wurden hier Polymergranulate zu Nylonfäden verarbeitet, aus denen Produkte wie Strumpfhosen, Hemden, Sportbekleidung und Teppiche hergestellt wurden. Die Mitarbeiterzahl stieg mit der Erweiterung der Produktionskapazitäten für Teppichgarn und Polyester rapide an. Im Dezember 1969 waren bereits 2.408 Mitarbeiter im Werk beschäftigt. Ein kostenloser Bustransfer aus über 30 Gemeinden wurde eingerichtet.
Das Faserwerk hatte enorme Auswirkungen auf das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben in Östringen. Dank sprudelnder Gewerbesteuereinnahmen erlebte Östringen einen wirtschaftlichen Aufschwung und die Nachfrage nach Wohnraum stieg stark an. Neue Baugebiete wurden erschlossen. Ab 1969 entstand ein Bildungszentrum mit der Silcherschule, dem Leibniz-Gymnasium und der Thomas-Morus-Realschule. Zudem trug ICI zur Gründung des heute weltweit bekannten Softwareunternehmens SAP bei. Die Verbindung zur SAP findet sich im Umstand, dass einige der Gründer des heutigen Software-Riesen ehemalige Mitarbeiter von IBM waren, die an Projekten mit ICI beteiligt waren. Insbesondere Dietmar Hopp, einer der SAP-Gründer, war bei IBM tätig und hatte möglicherweise auch durch diese Arbeit Einblicke in die technischen und betrieblichen Prozesse bei ICI gewonnen.
Lange Rede, kurzer Sinn, Östringen war ab Mitte der Sechzigerjahre vom Glück geküsst. Der Strukturwandel gipfelte schließlich in der Stadterhebung anno 1981. Das Nylonfaserwerk, in Östringen nur kurz “die Nylon” gennant, durchlebte jedoch nich nur Höhen, sondern auch Tiefen, insbesondere während der Ölkrisen der 1970er Jahre, durch Rationalisierungen und Verkäufe an neue Eigentümer. Trotz allem konnte sich das Werk dank seiner guten Mannschaft und hoher Technologie behaupten und wurde zum größten Werk seiner Art in Europa.
Doch bekanntlich wird nichts für immer – „What goes up must come down“, würden die Briten dazu sagen. In den Jahren 2010 und 2012 wurde das Werk schließlich geschlossen. Nach dem Verkauf der Industrieanlage entstand der IP Industriepark Östringen, in dem sich neue Unternehmen wie die Unternehmensgruppe Rothermel, der Getränkelogistiker Winkels, das Versandzentrum Bader oder das Stahlwerk Zolk ansiedelten. Das ehemalige Verwaltungsgebäude des Faserwerks wurde Ende 2023 zu einem Hotel umgebaut. Auf dem ehemaligen Werksgelände sind nun über 1.100 Mitarbeiter beschäftigt, mehr als zum Zeitpunkt der Werksschließung.
Dass die gute alte Nylon nicht in Vergessenheit gerät, dafür sorgen seit Jahren hingebungsvoll besonders zwei Akteure: Walter Rothermel und Christoph Wohlfarth. Die beiden haben nicht nur unzählige Dokumente, Schriftstücke, Ausrüstungsgegenstände und Exponate aus dem alten Werk gerettet, restauriert, in Sicherheit gebracht und im so genannten “Nylon Archiv” – einem Ausstellungsgelände hinter dem Rathaus aufbereitet, sondern auch – zusammen mit vielen weiteren Autoren, Experten und Zeitzeugen – ein Buch über die goldenen Jahre Östringer Industriegeschichte auf den Weg gebracht.
Am Dienstag stellten sie das umfangreiche Werk vor vielen geladenen Gästen in den ehemaligen Räumlichkeiten des früheren Verwaltungsgebäudes der Nylon der Öffentlichkeit vor. Rund vier Jahre flossen in die akribische Recherche und die Umsetzung des Projektes. „Als wir uns im Frühjahr 2020 zum ersten Mal ernsthaft mit der Idee befassten, eine Firmenchronik über die ‚Nylon‘ in Östringen zu verfassen, führten wir viele Gespräche mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sowie mit Vertretern des örtlichen Heimatmuseums und der Stadt. Dabei stießen wir auf große Zustimmung, viele sagten spontan ihre Mitwirkung zu….Entstanden ist so ein umfassendes, authentisches und lesenswertes Portrait einer nahezu 50-jährigen Erfolgsgeschichte, die den Ort Östringen sowie die umliegenden Gemeinden bis heute nachhaltig prägt.“ so Walter Rothermel und Christoph Wohlfarth in ihren Grußworten. Umrahmt wurde die Präsentation des Buches auch von einem aufwändig recherchierten und zusammengestellten Filmbeitrag, realisiert durch Schülerinnen und Schüler der ThomasMorus-Realschule.
Im Grunde hat jeder in Östringen und darüber hinaus eigene Erinnerungen an die Tage der Nylon. Nicht wenige der Menschen, die heute hier leben, haben ihre berufliche Laufbahn hier begonnen oder zumindest schon einmal ausgeholfen. Auch Östringens Bürgermeister Felix Geider hat in seiner Jugendzeit einen Aushilfsjob bei der Nylon ergattert und schon am ersten Tag eine Abmahnung erhalten, weil er nicht wie vorgeschrieben den Handlauf benutzt habe, so das sichtlich gut gelaunte Stadtoberhaupt bei der Buchpräsentation. Ehrengäste der Veranstaltung waren unter anderem der ehemalige Innenminister Heribert Rech, der ehemalige Östringer Bürgermeister Erich Bamberger, einstige Führungskräfte und Werksleiter der Nylon, zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie unzählige Wegbegleiter dieser wichtigen Östringer Epoche. SAP-Chef Dietmar Hopp wollte eigentlich auch dabei sein, ließ sich aber kurzfristig entschuldigen, ein umfangreiches Grußwort von ihm findet sich aber auf den ersten Seiten des Buches. Erschienen ist es unter dem Titel “Die Nylon” im Verlag Regionalkultur und kann unter anderem dort für knapp 25 € im Hardcover erstanden werden.
Danke für diese Zeitreise. Auch in Gochsheim gab es Menschen die bei der Nylon gschafft henn. Wenn ich mich nicht irre gab es sogar einen Werksverkehr.
Ja da ist zu jeder Schicht ein Bus gefahren
Schön das dass ehemalige Verwaltungsgebäude nun auch eine Nutzung erfährt.
Meine Ferienjobs in der Nylon mit eigenem Werksfahrrad werde ich nicht vergessen
Auch ich habe 30 Jahre in Östringen gearbeitet erst in der C Schicht und dann in der D Schicht.
Und ich bin froh, dass ich da nie arbeiten musste!
Ich war ca. 26 Jahre im Schichtbetrieb Tätig und auch 9Jahre im Betriebsrat . Uns allen hat es sehr weh getan damals den Sozialplan zu erstellen mit dem Ehrgeiz viel für die Mitarbeiter zu tun die jetzt in die Arbeitslosigkeit gehen . Die Belegschaft zum Schluss hatte ja einen Schnitt über 50 Jährige durch die vielen Stellenstreichungen der Jahre davor . Schade , ich wollte damals auch im Werk in Rente gehen da ich während der Jahre viele gute Kollegen in die Rente verabschiedet habe . War eine tolle Zeit in meinem Leben wo ich gerne zurück denke .
Ich war 14 Jahre in der Z Schicht…
Betrugen die Baukasten anno 63 tatsächlich 200mio ? Oder eher 20?
Schade dass durch fehlende Infrastruktur niemand in Östringen investieren will. Die Leute sind es Wert
Niemand will in Östringen investieren? Vielleicht reden wir von unterschiedlichen Städten?
Ich würde nicht sagen „niemand“, nur sind in Östringen im Vergleich zur Größe der Stadt und dem Potential tatsächlich zu wenige relevante Firmen angesiedelt. Es ist kein Geheimnis, lange wurde sich auf den Erfolgen der ICI ausgeruht. Und es fehlt an entsprechender Infrastruktur, stimme zu.