Seit 50 Jahren schweißt eine kleine Wengerthütte bei Oberöwisheim Roland und Renates Familie fest zusammen
Seit Roland denken kann, gehört der kleine Weinberg zwischen Oberöwisheim und Zeutern bereits zu seinem Leben. Schon als kleiner Junge ist er seinem Vater dort in der Kohplatte regelmäßig zur Hand gegangen, hat Unkraut gejätet, Äste beschnitten und bei der jährlichen Weinlese geholfen. “Irgendwonn bekummsch du e mol den Wengert” hat sein Papa ihm damals versprochen und Wort gehalten. 1972, in jenem Sommer als das Attentat während der Olympischen Spiele in München die Bundesrepublik erschütterte und Präsident Nixon über die Watergate Affäre stolperte, beschlossen Roland und seine Frau Renate auf dem kleinen Weinberg eine Hütte zu errichten. Viele Freunde und Bekannte aus dem nahen Oberöwisheim halfen damals mit – schnell, unbürokratisch und ohne zu Zögern. Das Dorfleben und der Zusammenhalt waren damals unverrückbare Werte, erinnern sich Roland und Renate mit etwas Wehmut. Das Holz für den Bau wurde direkt aus einem Bruchsaler Betrieb beschafft. “Zwanzig Mark in die Hand des Pförtners und ab damit auf den Bulldog” erinnert sich Roland mit einem schelmischen Augenzwinkern. “So oifach ging des damals”.
Noch während sich die kleine Hütte im Bau befand, fragten schon Bekannte aus dem Dorf kurz vor Weihnachten 1972 an, ob man denn nicht Silvester dort oben auf dem Wengert feiern könnte? “Wir haben dann ja gesagt und wenige Tage später war die Hütte fertig und komplett eingerichtet, 15 Mann haben sich dann in die wenigen Quadratmeter gequetscht und gemeinsam ins neue Jahr gefeiert” erzählt Renate und muss ob der schönen Erinnerungen lachen. “Jeder hat irgendetwas mitgebracht, der eine ein bisschen Gulasch, der andere eine Flasche Wein und wieder ein anderer einen Laib Brot – es war ein schönes Miteinander damals auf der Kohlplatte”
Auch wenn man es angesichts der abgeschiedenen Lage nicht vermuten würde, so haben sich doch über die Jahre einige spannenden Geschichten in und um die kleine gelbbraune Hütte abgespielt. An einem Weihnachtsmorgen in den Siebzigern überraschte Roland beispielsweise drei splitternackte Teenager die offenbar das “Fest der Liebe” allzu wörtlich ausgelegt hatten. Einbrüche sind ohnehin in den vielen kleinen Hütten auf der Kohlplatte regelmäßig ein Thema. Einmal trafen Roland und Renate auf einen Obdachlosen der sich dort seine Mahlzeit erwärmte und ein anderes Mal fanden sie das einzige Fenster der Hütte fachmännisch ausgebaut auf dem Boden stehend vor.
Abgesehen von diesen wenigen Vorfällen, verbinden die beiden mit ihrer kleinen Hütte aber ausschließlich schöne Erinnerungen. Über all die Jahre weg feierte die kleine Familie – heute drei Generationen inklusive Enkelkinder, hier regelmäßig ein kleines Weihnachtsfest. Eng zusammen gekuschelt auf den wenigen Quadratmetern, rund um den über 100 Jahre alten Kachelofen.
Heute sind Roland und Renate immer noch hier, nehmen auf ihrer kleinen Veranda Platz und lassen den Blick über die wunderbare und friedliche Naturlandschaft Kraichtals gleiten. Beide sind längst im Ruhestand, Roland nach fast 50 Jahren als Baggerfahrer auf so ziemlich jeder Baustelle in der Region und Renate als erfahrene Kindergärtnerin und Tagesmutter. Den Wengert haben sie mittlerweile verpachtet, die kleine Hütte bleibt aber selbstredend das ewige Juwel der Familie. Hier sitzen Sie gemeinsam und eng aneinander geschmiegt und erinnern sich an die vielen schönen Stunden in ihrer kleinen Ecke der Welt. Von hier oben sehen Sie beispielsweise die Hügel unter denen immer noch die Überreste von Rolands Elternhaus vergraben liegen, den Hohlweg, in welchem vor Ewigkeiten ein paar alte Automobile entsorgt wurden und natürlich das feuchte Stück Land auf dem um Haaresbreite vor Jahrzehnten fast Ferienhäuser und Hotels errichtet worden wären.
Viele der alten Wegbegleiter sind schon längst nicht mehr da – Günther, der langjährige Freund der beiden, der Henninger Hannes, der immer die Quetschkommode spielte und auch einer von Rolands Brüdern ist schon lange gestorben. Roland und Renate aber sitzen immer noch auf ihre kleinen Bank und haben sich manche Lektionen des Lebens längst zu eigen gemacht. “Man braucht viel weniger als man denkt” weiß Roland mittlerweile mit Gewissheit und auch aus der Corona-Krise hat er für sich eine essentielle Wahrheit gezogen: “Immer höher, weiter und schneller – das funktioniert einfach nicht”.