Die Umstände, unter denen Frauen im Krankenhaus ihre Babys zur Welt bringen, haben sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Ein Wandel, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Ein Besuch auf der Geburtenstation der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal
von Stephan Gilliar
An diesen windigen Herbstabend im September 2009 kann ich mich nur zu gut erinnern. An diesen Moment, an dem nach zehn Stunden Wehen, Schmerzen, Keuchen, Hände halten und im Grunde hilflosen Danebenstehens etwas in mir gekippt ist. Auf der alten Geburtenstation in der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal gab es damals eine klitzekleine Toilette am Ende des Flures, gerade so breit, dass man mit den Knien beim Sitzen schon ans Waschbecken stieß. Ich habe mich dort eingeschlossen und vor Erschöpfung und – ganz ehrlich – auch ein bisschen vor Verzweiflung – geheult wie ein Schlosshund. Zu diesem Zeitpunkt sollte es noch fast einen ganzen Tag dauern, bis aus mir ein Vater wurde – insgesamt 32 Stunden brauchte die Geburt meiner Tochter. Was für eine epochale Erfahrung. Besonders gut ist mir im Gedächtnis die absolute und völlige Hilflosigkeit geblieben, die Unfähigkeit meine Frau zu unterstützen, die durch diesen endlos langen Marathon aus Wehen, aus ständig wechselnden Ärzten, Schwestern und Hebammen im Grunde alleine hindurch musste. Das unablässige nasse Pulsieren des Fetalmonitors, das kalte Licht in diesem ebenso kargen Raum, schließlich der Kaiserschnitt als sich meine Tochter kurz vor knapp im Uterus drehte und schließlich die ersten Stunden „Erholung“ nach der Geburt in einem Zimmer, in dem noch zwei weitere frisch Entbundene lagen und einen nicht endenden Strom an Besuchern empfingen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin mehr als dankbar für meine Tochter. Das Gefühl, sie das erste Mal in den Armen zu halten, hat eine Verbindung tiefer und inniger Liebe hergestellt, die bis ans Ende meiner Tage niemals abreißen wird. Ob aber das Drumherum ihrer Geburt ein wunderschönes Ereignis in warmen Sepia-Tönen war? Das würde ich so nicht unbedingt unterschreiben.
Die Art und Weise, wie Babys in deutschen Krankenhäusern auf die Welt kommen, hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Zum Glück, denn in der Vergangenheit wurden hier nicht wenige Fehler gemacht. “Ja, da wurde sehr viel Porzellan zerschlagen“, erzählt mir Andrea, Hebamme an der Fürst-Stirum-Klinik. Sie erinnert sich noch gut an ihr erstes Ausbildungsjahr. Damals wurden die Babys gleich nach der Geburt von ihren Müttern getrennt, separat von Ihnen in speziellen Säuglingszimmern untergebracht. Heute ein absolutes No Go, weiß man doch nun genau, wie wichtig das Bonding, also die erste Bindung zwischen Mutter und Kind direkt nach der Geburt ist. Bei normalen Geburten wird der Säugling daher unmittelbar nach der Entbindung der Mutter auf die Brust gelegt um den sofortigen Beginn der innigen Beziehungen, die ein ganzes Leben prägen kann, zu ermöglichen
Tatsächlich hat an der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal in den letzten Jahren ein großer Paradigmenwechsel stattgefunden. Das komplette Thema Geburt, die Organisation der Frauenklinik, die Versorgung der Mütter vor und nach der Niederkunft, die Art und Weise der personellen und medizinischen Versorgung, alles wurde neu durchdacht. Seit 2013 ist man ein “stillfreundliches Krankenhaus”, ein Begriff, der zwischenzeitlich dem eingängigeren Narrativ “babyfreundliches” Krankenhaus, gemäß den klaren Vorgaben von WHO und UNICEF gewichen ist. Im Grunde geht es aber in beiden Fällen darum, für einen gelungenen Start ins Leben zu sorgen, eine Bindung zwischen Mutter und Kind zu unterstützen und ganz ohne Druck Anleitung und Beratung rund um das Stillen zu vermitteln. Maßgeblich dabei sind die Bedürfnisse von Mutter und Kind als Einheit. Es geht eben auch darum, für mehr Selbstbestimmung zu sorgen in einem System, dass jahrzehntelang die Mutter als passiven Patienten im Grunde ein Stück weit entmündigt hat.
Eine einst völlig fehlerhafte, kausale Verkettung, denn auch wenn Frauen ihre Kinder im Krankenhaus auf die Welt bringen, sind sie dennoch keine klassischen Patienten. “Sie sind ja nicht krank, sie bekommen ein Baby” bringt es Dr. Ute Felten auf den Punkt. Die Mittfünfzigerin mit dem silbergrauen Haar ist seit rund zwei Jahren neue ärztliche Direktorin an der Bruchsaler Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Sie weiß genau um die Bedeutung der Geburt und dieser ersten Momente, wenn aus einer Frau eine Mutter wird und ein Baby das erste Mal das Licht der Welt erblickt. “Es ist ein großes Geschenk, dies zu begleiten“, sagt sie, auch wenn sie sich nach Möglichkeit dabei im Hintergrund hält. “Ich verstehe mich als ärztlicher Geburtshelfer“, sagt sie und meint damit, dass im Kreißsaal in erster Linie die Hebammen den Geburtsprozess aktiv begleiten. Natürlich ist bei jeder Geburt immer ein Arzt zugegen, stets bereit einzugreifen, wenn es notwendig ist. Wenn alles gut geht, ist das aber nicht nötig und dann steht Ute Felten als ruhender Pol einfach dabei, unterstützt, assistiert und reicht vielleicht hier und da mal ein Handtuch.
Überhaupt scheint nichts und niemand diese Frau aus dem Gleichgewicht bringen zu können. Bedächtig und besonnen erzählt sie ruhig und unaufgeregt von ihrer Arbeit als Gynäkologin. “Das ist alles eine Frage der Erfahrung” sagt sie und über diese verfügt sie reichhaltig. Ursprünglich kommt sie aus der ländlichen Region um Stuttgart, genauer gesagt aus Köngen oder „Kenga“, wie man dort sagen würde. Dass sie Medizinerin werden würde, war ihr im Grunde schon immer klar, die Arbeit mit Menschen fasziniert sie von jeher. So studierte sie Medizin zuerst in Ulm, später in Tübingen. Eine Spezialisierung auf die Frauenheilkunde war zwar nicht Teil des Plans, sollte sich aber später als goldrichtig Entscheidung herausstellen. “Es ist ein operatives Fach, es erfordert zudem viel eigene Diagnostik“, erzählt sie von den Vorzügen der Gynäkologie sowie der Geburtshilfe – verschweigt auch deren Paradoxien nicht: “Es ist so abgefahren, die einen wollen Kinder und können keine kriegen, die anderen kriegen welche, wollen aber keine”.
Das Timing ist wie bei so vielem im Leben entscheidend, das weiß Ute Felten genau, ebenso dass Frauengesundheit schon ganz früh anfängt. Dieses Credo lässt sich auch auf die Vorbereitung einer Geburt ausweiten, sie empfiehlt allen werdenden Eltern rechtzeitig die regelmäßig angebotenen Eltern-Infoabende der Klinik wahrzunehmen, sich zudem einen Termin für die Hebammensprechstunde geben zu lassen. Auf der Geburtenstation arbeiten Ärzte, Pflegepersonal und Hebammen Hand in Hand, ergänzen sich dabei perfekt. “Gemeinsam kriegen wir das Beste für Frau und Kind hin“, stellt Ute Felten fest. Die Arbeit der Hebammen ist dabei einer der zentralen Motoren in der Frauenklinik der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal. Ohne sie würde nichts gehen, absolut gar nichts. Wenn Hebammen auf der Station fehlen, wirkt sich das sofort auf den Betrieb und letztlich auch ganz essentiell auf die Zufriedenheit und die Versorgung der werdenden Mütter aus. In der Vergangenheit gab es solche Engpässe bedauerlicherweise regelmäßig, doch seit sich die Hebammen an der Klinik völlig neu aufgestellt und organisiert haben, hat sich das grundlegend gewandelt.
Seit fast auf den Tag genau vier Jahren führen die Hebammen den Kreißsaal im so genannten Belegsystem, organisieren sich dabei komplett selbst und autonom. Früher waren sie an der Klinik angestellt, heute sind sie Selbstständige und haben mit dem “Hebammenteam Bruchsal” im Grunde ein eigenes Unternehmen gegründet. Sie sorgen dafür, dass immer ausreichend Hebammen auf Station sind, für den Fall eines Falles immer Back-Up-Kräfte zur Verfügung stehen. Für jeden Dienst, jede Schicht, jede Dienstleistung werden Punkte vergeben, am Ende des Monats dann abgerechnet und der Verdienst an die einzelnen Hebammen ausgezahlt. Dieser Verdienst kann zwar schwanken, unterm Strich lohnt es sich aber, zumal das Maß an Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit ungemein attraktiv ist, für viel mehr Bewerbungen sorgt, als jemals zuvor.
Die Zufriedenheit der Hebammen mit dem neuen System ist hoch, gemeinsam hat man sich dazu entschieden diesen Weg zu gehen. “Wir haben klar gesagt, wir machen das nur, wenn jede Einzelne von uns einverstanden ist“, sagt Connie und Andrea ergänzt: “Das ist eine echte WIN WIN Situation. Wir sind zufrieden, die Frauen sind zufrieden und es sind immer ausreichend Hebammen auf Station”. Die Hebammen arbeiten in 12-Stunden-Schichten, das klingt zwar nach viel, sorgt aber dafür, dass werdende Mütter im besten Fall durchgehend von ein und derselben Hebamme begleitet werden, das schafft Verlässlichkeit, Vertrauen und Zuversicht. “Man weiß aber nach den 12 Stunden schon, was man geschafft hat“, lacht Conny herzlich und laut. Sie ist ein Mensch, den man sofort mag, dem man sofort Vertrauen schenkt. Seit 30 Jahren ist sie bereits Hebamme und hat gelernt, in werdenden Müttern zu lesen. Sie kennt ihre Bedürfnisse, weiß genau, dass es ganz unterschiedliche Typen unter den Gebärenden gibt. “Manche wollen ganz viel Info und Aufklärung, andere wollen einfach nur vermittelt bekommen, dass alles in Ordnung ist, ohne viele Worte”. Beides gilt es zu akzeptieren, die Frauen so zu nehmen und zu behandeln, wie es für sie stimmig ist. “Auch wenn es hoch her geht, ist es wichtig, Ruhe auszustrahlen, bei uns ist es hier sogar ruhig, wenn es hektisch ist.” erzählt Conny und berichtet, wie sie auch im größten Trubel vor einer Tür erst einmal kurz stehen bleibt, tief durchatmet, still wird, dann den Raum betritt und wie ein Fels in der Brandung Zuversicht und Ruhe ausstrahlt.
Zuversicht und Ruhe sollen auch die neuen Räumlichkeiten der Geburtenstation im neuen G-Bau der Fürst-Stirum-Klinik vermitteln. Die Kreißsäle sind in indirekt-mattes, farbiges Licht getaucht, nichts erinnert hier an die OP-artige Sterilität früherer Inkarnationen dieser Geburtsräume. Es gibt hier eine große Liege für die Geburt, und eine Wanne für eine Wassergeburt. (Als ich diese naiv als Pool bezeichne, müssen Ute und Conny prustend lachen.) Frauen können wählen, auf welche Art und Weise sie hier ihre Babys zur Welt bringen wollen. Es sei denn, der Platz wird knapp, denn die Bruchsaler Babys scheinen sich hier untereinander nicht abzusprechen – manchmal kommen sie in regelrechten Wellen, manchmal ist es stundenlang ruhig.
“Wenn es richtig knallt, entbinden hier zeitgleich fünf Frauen“, erzählt Conny, aber das sei eher die Ausnahme. In den allermeisten Fällen geht aber alles glatt und den natürlichen Gang der Dinge. Dennoch: „Planmäßig läuft eine Geburt nie” weiß Andrea und meint damit, dass jede Niederkunft auf ihre ganz eigene Art und Weise abläuft. Für manche Frauen ist es zum Beispiel schwer, wenn die geplante vaginale Geburt irgendwann an einen Punkt kommt, an dem es nicht mehr weitergeht. Dann bleibt oft nur ein Kaiserschnitt, spätestens hier weicht der Wunsch der Wirklichkeit. Und dann gibt es natürlich noch die Fälle, in denen wirklich etwas ganz schief läuft, ein eigentlich freudiges Ereignis zu einem tieftraurigen wird. “Ganz selten haben wir hier auch eine “stille Geburt“, erzählt Dr. Ute Felten, meint damit jene traurigen Situationen, in denen ein Kind tot auf die Welt kommt. Noch vor Jahrzehnten wurde in diesem Fall das Kind oft einfach anonym irgendeinem anderen Toten in einem Sarg beigelegt, heute weiß man um die Schwere und die potentiell traumatischen Folgen einer solchen Situation besser Bescheid, begegnet Ihnen mit Anstand und Würde. Heute zieht man dem verstorbenen Kind ein paar schöne Kleider an, nimmt vielleicht noch einen Abdruck der kleinen Füßchen oder der Hände, bestattet es dann würdevoll in einem Sarg im Grabfeld der Schmetterlingskinder.
Solche Vorfälle ereignen sich zum Glück äußerst selten. Laut statistischem Bundesamt entfallen auf 1000 Geburten im Schnitt nur etwa vier Fehlgeburten. Dennoch sind solche Situationen selbstredend belastend, insbesondere für die trauernden Mütter, aber auch für das Team, das mit diesen Emotionen ebenso klarkommen muss. Doch die Hebammen in Bruchsal rücken dann zusammen, geben sich gegenseitig Halt, stehen einander immer zur Seite. Nicht nur in belastenden Situationen, sondern ganz generell, jeden Tag. “Wir sind wie die Gefährten aus Herr der Ringe” lacht Andrea, meint es aber genauso wie sie es sagt. Die Arbeit schweißt sie zusammen und eben das, um was sich hier alles dreht: Das Wunder der Geburt. “Wenn ich berichte, dass ich Hebamme bin, erzählen mir auch ganz alte Frauen davon, wie sie die Geburt ihrer Kinder erlebt haben, ganz detailliert in klaren Erinnerungen“, berichtet Andrea, die selbst Mutter dreier Kinder ist. Für Sie und Conny ist es wichtig, jede Frau, die auf ihre Station kommt, dort abzuholen, wo sie steht, dabei zu versuchen, ihr genau die Geburt zu ermöglichen, die für sie die richtige ist.
“Irgendwann im Laufe der Geburt betritt jede einzelne Frau ihren eigenen Tunnel, ist dann ganz bei sich und dann ist alles genauso in Ordnung, wie es geschieht. Dann ist auch Schreien gut, dann muss sich niemand benehmen“, versichert Andrea und wiederholt: “Alles ist gut, wie es ist”. Will heißen: Es gibt keine Erwartungshaltung, jede Frau darf und soll genauso sein wie sie in diesem Moment sein möchte. Auch das hat sich gewandelt, erinnert sich Conny: “Du durftest früher nur strahlen”, meint damit die völlig unrealistischen Erwartungshaltungen, die die Gesellschaft an werdende Mütter gerichtet hat. Wer kennt nicht die Bilder von glücklichen Müttern mit perfekten Frisuren und perfektem Make-up, die glückstrahlend in Filmen oder Serien unmittelbar nach der Geburt ihre Kinder im Arm halten.
Ja, glücklich sind die meisten Frauen nach der Geburt, aber auch erschöpft… tief erschöpft. Es gibt kaum etwas Anstrengenderes, als einem Kind auf die Welt zu helfen. Es ist ein fundamentaler Kraftakt, der dann am besten gelingt, wenn alle sich gegenseitig helfen, sich mit Achtung und Wertschätzung begegnen. Der Weg dorthin war bislang steinig, schon die eingangs beschriebene Geburt meiner Tochter – gerade einmal 15 Jahre her – erkenne ich kaum im heute erlebten Gang der Dinge hier in Bruchsal wieder. Ich finde es schön, dass sich hier so viel bewegt, so viel getan hat.
Der Schlüssel für eine gute Geburtserfahrung scheint daher besonders in einem begründet: Respekt!
Respekt vor den werdenden Müttern, vor ihren Wünschen, vor ihren Bedürfnissen, der Urgewalt der Bindung zwischen Mutter und Kind. Respekt vor der Arbeit der Hebammen, der Schwestern und Ärzte. Und Respekt vor dem größtmöglichen Wunder, das wir Menschen jemals erfahren dürfen: Dem Wunder der Geburt.
Also mich wunderts grad, dass aus mir was geworden ist.
Um die „sanfte Geburt“ ( frei nach Badesalz) erleben zu können, müsst ich ja wieder nei! Siehe Artikel „Zurück in Mamas Schoß“.
Dann wird vielleicht alles noch besser!
Siehe zurück in Mamas Schoß
Eine kleine Anmerkung am Rande.. Es wäre super, wenn sich die Geburtenstation dafür einsetzen könnte, dass im Eingangsbereich des Krankenhauses ein Wickeltisch installiert wird. Selbst das Empfangspersonal wusste nicht, wo ein solcher zu finden ist..