Wenn es um die Schwächsten geht, werden wir zuweilen steinhart
Eine Kolumne von Thomas Gerstner
In was für einer kranken Welt leben wir eigentlich? Das ist mittlerweile mein Standardsatz, wenn ich mich versehentlich wieder länger als die gesundheitlich unbedenklichen 15 Sekunden in den sozialen Netzwerken aufgehalten habe, die mir mein Hausarzt ob meines hohen Blutdrucks als Limit gesetzt hat. In einer meiner örtlichen Klatsch und Tratsch Gruppen wurden dort just einmal mehr pauschale Warnungen ausgesprochen, weil ausländisch aussehende Menschen in den Straßen unterwegs sein…… Oh mein Gott, ausländisch aussehende Menschen. Bringt die Kinder ins Haus und vergrabt das Tafelsilber tief im Garten.
Tatsächlich aber musste ich bei meinem anschließenden Beruhigungs-Spaziergang, der derzeitigen Gerüchteküche einen wahren Kern zuerkennen. Es waren tatsächlich einige ausländisch aussehende Menschen in den Straßen unseres Dörfchens unterwegs. Sie fuhren uralte, verbeulte Kastenwagen, mit wahlweise ungarischen, polnischen oder rumänischen Nummernschildern und tuckerten mit Höchstgeschwindigkeiten von etwa zehn km/h durch die Gassen. Der Kenner weiß natürlich sofort: Aha, es ist mal wieder Sperrmülltag im Dorf. Dann liegen sie wieder auf den Gehsteigen, die unschätzbar wertvollen Kostbarkeiten, zu deren Schutz auch gerne mal Polizei und Ordnungsamt ausrücken: Das alte Fitnessfahrrad, dass so viele Jahre treue Dienste im Schlafzimmer als Kleiderständer geleistet hat…. der alte Grundig Röhrenfernseher von Onkel Heinz, der in Zeiten von DVB-T einfach keine Schaltung mehr in die Schwarzwaldklinik ermöglichen wollte und natürlich der Klassiker, der bei keinem Sperrmüll fehlen darf: Die alte Matratze auf der – über das Fleckenbild zu schließen, ihr Besitzer sich mehrfach erbrochen, darauf menstruiert und später auch – wochenlang von allen unbemerkt – verstorben ist.
Gegen den Sirenengesang dieser ganzen Schätze, gegen die sich die jüngst im Grünen Gewölbe erbeuteten Juwelen wie billige Strasssteine ausnehmen, kann kaum ein ehrbares Sammlerherz bestehen. So halten die Transit- und Sprinter-Kapitäne auf ihrer Schleichfahrt durch die dörflichen Straßenschluchten hin und wieder an, durchforsten die Abfälle unserer Luxus-Gesellschaft nach Verwertbarem und setzen daraufhin ihre Suche fort.
An guten Tagen kommen auf diese Art und Weise vielleicht ein paar Wertstoffe zusammen, die sich im Anschluss verkaufen und zu Geld machen lassen. Geld das vermutlich an die Familie nach Hause geht, z.b. nach Rumänien wo bonzige Gutverdiener immerhin gigantische 600 € pro Monat scheffeln können….Fette und obszöne Stundenlöhne von bis zu 2 € sind hier keine Seltenheit.
Nicht immer endet ein Tag im Leben eines Sperrmüllsammler aber in Glück und Zufriedenheit. Wenn man nicht gerade von Einheimischen beschimpft wird, die finden das ihr Müll nicht den Ärmsten zur Verfügung stehen sollte, gibt es auch unsere traditionell konsequente und stahlharte Staatsmacht. In kleinen Razzien werden die weißen Lieferwagen an Ort und Stelle gestoppt und ein Einsatzkommando aus Ordnungsamt und Polizei eskortiert die armen Tropfe dann zum örtlichen Bauhof. Dort müssen Sie nicht nur den schamlos erbeuteten Müll eigenhändig abladen, sondern meist noch Bußgelder und Sicherheitsleistungen im Bereich mehrfacher Monatseinkommen abdrücken.
Denn obwohl es eigentlich im deutschen Gesetz so schön heißt: Eine herrenlose, bewegliche Sache darf generell jeder mitnehmen“, so gelten beim Diebstahl von Sperrmüll ganz andere Regeln. Bei den Sammelaktionen wurde im Vorfeld eine Übereignung vom bisherigen Besitzer hin zu den Entsorgungsbetrieben vereinbart. In diesem Fall sind die Gegenstände nicht herrenlos, sondern werden nur bis zur Übergabe auf der Straße zwischengelagert.
Wer jetzt noch zuschlägt, macht sich genauso strafbar wie jener der aus dem Müllcontainer eines Supermarktes weggeworfene Lebensmittel fischt. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: In einem stinkreichen Land wie Deutschland, das jedes Jahr knapp 20 Millionen Tonnen Lebensmittel wegwirft, ist die Entnahme dieser Lebensmittel aus Müllkübeln strafbar und wird mit Geldbußen belegt. Wobei, das ganze hat in unserer Region ja schon eine gewisse Tradition. Noch 1897 wurden im Großherzogtum Baden in nur einem Jahr 5100 Bestrafungen gegen Bettler und Landstreicher verhängt, allesamt zu verbüßen im Gefängnis oder alternativ im Arbeitshaus.
Woher kommt diese traurige Missgunst gegenüber den Ärmeren? Ich störe mich an den Jungs in ihrem weißen Bussen seit einer ganzen Weile nicht mehr. Wenn sich einer vor unserer Haustür verirrt, helfe ich ihm sogar noch beim Einladen. Dem Totschlag-Argument der Entsorgungsbetriebe, die fehlenden Wertstoffe durch den Sperrmüll würden die Müllgebühren verteuern, kann ich angesichts der ohnehin schon horrenden Beiträge nichts abgewinnen.
Aber ich will ehrlich sein, früher begegnete ich den Sammel-Jungs ebenso mit Misstrauen. Das änderte sich, als ich irgendwann das Haus meiner verstorbenen Schwiegereltern entrümpeln musste. Ich war damit heillos überfordert, die ganze Bude war voll gestopft von oben bis unten. Zunächst einmal habe ich den ganzen Schrott im Schweiße meines Angesichtes auf einen riesigen Haufen in die Einfahrt gestellt. Der Berg wurde immer größer, doch das Haus überhaupt nicht leerer. Da just an diesem Tag zufälligerweise der Sperrmüll im Ort gesammelt wurde, hielt irgendwann auch der unvermeidliche, weiße Kastenwagen. Vorsichtig lugte ein dunkles Gesicht über die bekopftuchte Beifahrerin hinaus und fragte vorsichtig, mit einem Zeig auf den Haufen, ob man mal schauen dürfte. Klar, sagte ich, was weg ist ist weg. Dann wurde es richtig bunt in unserer Straße. Immer mehr weiße Kastenwagen rollten an und am Ende standen fünf davon in Reih und Glied auf dem Bürgersteig. Gemeinsam stromerten wir durch das Haus und räumten die Bude innerhalb von wenigen Stunden ratzeputz leer. Dabei ging es die ganze Zeit freundschaftlich, locker und reibungslos zu. Nichts wurde weggenommen, ohne mich vorher darum zu bitten oder danach zu fragen. Auch untereinander gingen die Männer respektvoll miteinander um. Ich erinnere mich genau: Einer, er hieß Ciprian, hatte ein schwaches Bein und hinkte unablässig. Da er von mir den Zuspruch für die alte Waschmaschine im Keller erhalten hatte, bat er die anderen darum ihm beim Verladen zu helfen. Diese ließen tatsächlich alles stehen und wuchteten gemeinsam die Waschmaschine in Ciprians Bus. Ich war schwer beeindruckt, das passte so gar nicht zu meinen bisherigen Vorurteilen. Kurze Zeit später hatte ein spindeldürrer Pole den etwa 20 Jahre alten Laptop meines verstorbenen Schwiegervaters entdeckt. Er fragte mich ob er das Gerät für seine Tochter haben dürfe. Ich antwortete ihm, dass noch persönliche Daten drauf sind und mir das deshalb nicht so recht wäre. Also borgte er sich von einem der Kollegen einen dünnen Kreuzschlitzschraubenzieher, schraubte sorgfältig vor mir den Laptop auf, übergab mir die Festplatte und fragte erneut ob er den alten Kasten haben dürfe. Ich hatte nichts mehr einzuwenden.
Am Ende des Tages war die für mich unvorstellbare Arbeit erledigt, das Haus leer und meine Vorurteile verpufft. Es lohnt sich eben manchmal doch jene Menschen kennenzulernen, denen wir vorher noch nicht einmal unseren eigenen Abfall vergönnten. Klar gibt es unter den Jungs auch jede Menge schwarze Schafe, insbesondere jene, die organisiert in Banden ihre kompletten Gewinnen an irgendwelche Chefs im Hintergrund abdrücken müssen. Um die soll es hier ganz explizit natürlich nicht gehen…!
So ist er eben, der Zeitgeist im Jahre 2019: Vor 14 Tagen liefen wir noch mit unseren Kindern durch die Gassen und feierten St. Martin, der seinen halben Mantel den Bedürftigen schenkte und ein paar Tage später rümpfen wir die Nase, wenn ein paar Habenichtse unserem Müll auch nur zu nahe kommen. Da geht doch noch was, oder?
So long, Euer Tommy
dieser Beitrag erschien erstmals im Herbst 2019