Das Gesetz der Starken

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Schwächere Verkehrsteilnehmer geraten auch im Kraichgau immer mehr unter Druck

Ein Appell von Stephan Gilliar

Die Landstraße zwischen Unteröwisheim und Münzesheim ist eine von vielen im Hügelland. Nur ein paar Kilometer lang, kurvig, eine Mischung aus ein bisschen Tempo 50, Tempo 70, der größte Teil aber ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, beziehungsweise den auf Landstraßen maximal erlaubten 100 km/h. Mit dem Auto ist die Strecke keine große Sache, anders sieht es jedoch auf dem Motorroller aus. Hier habe ich schon die eine oder andere Nahtoderfahrung sammeln dürfen, wenn ich mit meiner gelben Schwalbe zwischen Unteröwisheim und Münzesheim unterwegs war. Mein Highlight: der Überholvorgang eines massiven 40-Tonners, begleitet von wütendem, langgezogenem Gehupe, mit nicht einmal einem barmherzigen Meter Abstand zu meiner schwachen Schwalbe. Völlig ohne Ironie und abseits jeden Humors kann ich Ihnen sagen, dass ich in diesem Moment wortwörtlich den eigenen Tod vor Augen hatte, als der Fahrtwind des vorbeirasenden Ungetüms meinen Roller durchschüttelte und ich vor lauter Zittern kaum noch den Lenker gerade halten konnte. Ob sich der Fahrer auch nur eine Sekunde lang Gedanken darüber gemacht hat, was passiert wäre, wenn sein Überholmanöver mich zum Sturz gebracht hätte? Wenn mein Körper über den Asphalt geschlittert und vielleicht sogar unter seine massiven Räder oder die des Gegenverkehrs geraten wäre? Wäre es das wert gewesen, zehn Sekunden früher in Münzesheim anzukommen, nur um dort auf die maximal erlaubten 30 km/h abbremsen zu müssen?

Es ist nicht das einzige Mal, dass ich auf dieser oder anderen Strecken als Rollerfahrer von teilweise großen und schweren Fahrzeugen bedrängt wurde. Manche erlauben sich, angesichts der schmalen Breite meiner Schwalbe, einfach zwischen mir und dem Gegenverkehr „durchzuschlüpfen“, auch wenn zwischen deren Außenspiegel und meiner Lenkerspitze manchmal kaum noch ein Blatt Papier passt. Ich kann nichts daran ändern, Freunde, meine Schwalbe fährt eben nur 45 km/h. Das ist eine Reisegeschwindigkeit, die mir durchaus angenehm ist, für manche aber einen derart massiven Affront darstellt, dass sie bereit sind, für ein paar Sekunden Zeitgewinn mein Leben (und vermutlich in der Folge auch ihr eigenes) aufs Spiel zu setzen.

Als schwächerer Verkehrsteilnehmer muss man sich auf dem Land zunehmend rechtfertigen, das zeigt gerade wieder die aktuelle beispielhafte Diskussion um die Velomobile. Erst kürzlich fand eine Frau aus Philippsburg in einem solchen den Tod, die anschließende Diskussion in den sozialen Medien liest sich teilweise wie Hohn. Lautstark und vollmundig fordern manche Autofahrer dort das Verbot dieser umweltfreundlichen Fortbewegungsmittel, man würde sie nicht richtig auf der Straße sehen. Aus meiner eigenen Erfahrung ist diese Argumentation nicht nachvollziehbar. Ich habe schon viele dieser Mobile auf der Straße getroffen, sie jedes Mal hervorragend gesehen, es gilt eben auch Rücksicht zu nehmen und vorausschauend zu fahren.

Das unausgesprochene Recht des Stärkeren scheint sich jedoch zunehmend auch auf der Straße durchzusetzen; die Annahme mancher ist mittlerweile offenbar, dass es so etwas wie ein Anrecht auf freie und ungehinderte Fahrt gäbe. Um es kurz zu machen: Das ist falsch. Die Straße ist für alle da – für Traktorfahrer mit ihren gemächlichen 25 Stundenkilometern, für Rollerfahrer wie mich mit ihren 45 Stundenkilometern, für Radfahrer und natürlich auch für Autos, die deutlich schneller fahren könnten, aber gemäß des allerersten Paragraphen der Straßenverkehrsordnung auf Schwächere Rücksicht nehmen müssen.

Mit diesem Appell richte ich mich keineswegs an alle. Es gibt durchaus sehr viele Autofahrer im Kraichgau, die achtsam, bedächtig und wohlwollend gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern agieren. Aber es gibt eben auch die anderen, deren Zahl gefühlt zunimmt – jene, die in der Sekunde, in der ihre Fahrzeugtür ins Schloss fällt, glauben, komplett entkoppelt von ihrer Umwelt in einer Art isolierten Blase durch unseren gemeinsamen Lebensraum gleiten zu können. Die scheinbar losgelöst von Physik und Umwelt ihren egozentrischen Kurs halten, koste es, was es wolle. Klar, jeder von uns kennt das Gefühl: In den heute immer größer und dicker werdenden Autos hat man kaum noch Kontakt zur Außenwelt. Perfekt sind die Innenräume unserer Fahrzeuge isoliert, man hört kaum noch, was um einen herum passiert, und der Bezug zur Wirklichkeit leidet massiv darunter. Ich kann Ihnen versichern: Auf einem Roller sieht die Realität der Straße gänzlich anders aus. Der Fahrtwind knallt Ihnen ins Gesicht, Sie hören das wilde Rauschen des Verkehrs, Sie spüren die Erschütterungen der schweren Fahrzeuge, und beim Überholen packt Sie der Fahrtwind nicht selten gnadenlos von der Seite. Keine Karosserie und keine Airbags trennen Sie im Falle eines Falles von ihrer Umwelt, nur das bisschen Stoff ihrer Kleidung und der Helm.

Ganz klar, damit muss man als Zweiradfahrer umgehen können und das Fahren beherrschen, aber damit endet auch schon die Bandbreite der eigenen Möglichkeiten. Die Rücksichtnahme der anderen, darauf habe ich keinen Einfluss, darauf bin ich aber angewiesen. Man könnte sagen: Mein Leben hängt davon ab.

Gerade in diesen Tagen ist meine Tochter 15 Jahre alt geworden und möchte mobil und unabhängig werden, so wie wir das früher in diesem Alter auch unbedingt wollten. Erinnern Sie sich? Wir haben den Mofa-Führerschein gemacht, etwas später den größeren Mopedschein, und so schnell es ging den Autoführerschein. Doch ich bin ehrlich zu Ihnen: Ich weiß nicht, was ich ihr empfehlen oder erlauben sollte. Denn der Straßenverkehr ist nicht mehr der Straßenverkehr meiner Jugend. Erinnern Sie sich noch beispielsweise an einen Golf 1, mit seinen etwa 900 Kilo Leergewicht und seinen schmalen Ausmaßen? Der aktuelle Nachfolger bringt fast 400 Kilo mehr auf die Waage, einen ähnlichen Trend verzeichnen wir so bei vielen Fahrzeugen. Es wird immer weiter aufgerüstet, immer mehr schwere Geländewagen und SUVs sind auf unseren Landstraßen unterwegs. Mehrere Tonnen Fahrzeuggewicht bewegen lächerliche 100 Kilo Lebendgewicht durch die Gegend – wenn überhaupt. Die Statistiken belegen klar, dass die Landstraße nach wie vor der Verkehrsraum ist, in dem die meisten Unfälle geschehen, weit vor unseren Autobahnen.

Die Vorstellung, dass mein zierliches Mädchen auf einem schwachbrüstigen Roller durch diese hochmotorisierte und nicht selten aggressiv gesteuerte Flotte an „Kleinpanzern“ ihren Weg sucht, verursacht mir Magenschmerzen. Wie eine Kollision mit einem solchen Fahrzeug aussieht, muss ich Ihnen nicht erklären – das können Sie fast jeden Tag in den Nachrichten lesen, nicht selten auch in unseren. Aber kann die Lösung denn wirklich sein, dieses Wettrüsten immer weiter voranzutreiben? Die eigene Sicherheit nur dadurch zu erhöhen, dass man sich ein noch massiveres Fahrzeug anschafft, um im Falle eines Unfalls eine Überlebenschance zu haben? Ich kann den Gedanken durchaus nachvollziehen, aber das führt doch alles ad absurdum, was gerade wichtig und gut wäre: die Lebensqualität, die verstopften Dörfer und Städte, nicht zuletzt die Umwelt.

Ich habe mich schweren Herzens dazu durchgerungen, ihr den Moped-Führerschein zu ermöglichen. Schließlich ist von unserem Haus aus die nächste ÖPNV-Haltestelle knapp drei Kilometer entfernt. Ihr erstes Fahrzeug wird jedoch kein Zweirad sein, sondern ein modernes E-Leichtfahrzeug, das über eine rudimentäre Karosserie, zwei Sitze und ein Dach verfügt. Dennoch fährt es natürlich nur 45 km/h und wäre im Fall eines Unfalls mit einem schweren Pkw oder einem Lastwagen ohne Zweifel unterlegen.

Ich möchte Sie daher, als Rollerfahrer, als Verfechter der leichten und umweltfreundlichen Mobilität, aber auch als besorgter Vater, um eines bitten: Fahren Sie, was immer Sie möchten, doch fahren Sie bitte umsichtig. Denken Sie daran, dass die Straßen durch unser schönes Hügelland nicht nur den Starken und Schnellen gehören, sondern allen Menschen, die hier leben und auf ihre eigene Weise vorankommen möchten. Wenn irgendjemand entspannt unterwegs sein sollte, dann doch wir Kraichgauer – mit unseren gemütlichen Hügeln, unserer entspannten Lebensweise und dem Verständnis dafür, dass das Gras auch nicht schneller wächst, wenn man daran zieht.

Ich danke Ihnen von Herzen – gehen wir es langsam an.

Stephan Gilliar

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22 Gedanken zu „Das Gesetz der Starken“

  1. Zwischen Münzesheim und Unteröwisheim wurde vor Jahren ein Radweg gebaut.
    Der Radweg verläuft parallel zur Landstraße und darf meines Wissens auch von Mopedfahrern benutzt werden.
    Rennradfahrer nutzen die Radwege sowieso nicht, deshalb ist genügend Platz da.

    • Der Radweg ist uns natürlich bekannt, aber zumindest die Ausschilderung lässt nicht erkennen, dass hier auch motorisierte Zweiräder zulässig sind?

  2. Toller Artikel! Ich erlebe auch als Autofahrer, der mit vorgeschriebener Geschwindigkeit unterwegs ist, die sich steigernde Aggressivität von Autofahrern, welche die Straßenverkehrsordnung scheinbar durch das eigene Gefühl ersetzt haben. Leider ist diese Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit ja nicht nur im Straßenverkehr zu beobachten, es ist ein gesellschaftlicher Trend, von oben vorgelebt und gefördert. Schade!

    • Das nehme ich genau so war.
      Ich fahre auch stets „ordentlich“, da es mir den Stress, das erhöhte unfallrisiko und mein Führerschein bzw. Geld nicht wert sind, die Verkehrsverein zu brechen.
      Da fährt man außerorts bei erlaubten 70 vielleicht mal Tacho 80 und Word trotzdem massiv bedrängt und irgendwann eventuell (gefährlich) überholt. Es macht einfach keinen Spaß mehr auto zu fahren.
      Auf der Autobahn ist es noch extremer.
      Verkehrsberuhigte Bereiche (schrittgeschwindigkeit, Fußgänger haben VORRANG) interessieren die wenigsten, wird trotzdem mit 30 oder mehr „durchgeballert“.
      Es wird allgemein viel zu wenig kontrolliert und vorallem sanktioniert!!

  3. Als Radfahrer wäre es mir andersherum lieber.
    Hinter einem nicht E-Roller mit kaum höherer Reisegeschwindigkeit herfahren zu müssen ist alles andere als angenehm.

  4. Mir missfällt der scheinbar im heiligen Blechle per se eingebauter Universalitätsanspruch:
    * Egal ob zB hinter’m Friedhof in Bruchsal (keine Durchfahrt für Pkw Schild extra)
    * Auf allen Feldwegen mit dem Verkehrszeichen 260 („Verbot für Krafträder, auch mit Beiwagen, Kleinkrafträder, Mofas sowie für Kraftwagen und sonstige mehrspurige Kfz“),
    zB
    * hinter’m Fanfarenheim in Brusl
    * bei Heidelsheim den Buckel nuff
    * oder vom Buckel gen Unteröwisheim
    * Beim Bundeswehrübungsplatz …

    „… Haupstsache, ich bin fahr da mit dem Auto durch, egal, ob es alternativ einen KfZ Weg gibt oder nicht, und mir auch völlig egal, ob da Radler oder Spaziergänger sind … “

    Und Krönung ist natürlich immer, wenn man als „schwächerer“ Verkehrsteilnehmer genau auf solchen Wegen dann schräg angeschaut wird, wenn man nicht zügig Platz machen sollte …

  5. Also ich fahre einen E-Roller. Und wurde von Radfahrern angeranzt wegen des Staubes, den ich damit aufwirbeln würde…

  6. Wunderta wenn? Keine Kontrollen, Mautpreller werden hier noch durchgeleitet, der Landkreis hat null Interesse, daran was zu ändern.
    Und die Bürgermeister erzählen dem Volk, Blitzautomaten würden sich nicht lohnen.
    Aber Neubau- und Gewerbegebiete…da sind sie dabei.
    Und damit wird alles noch schlimmer.

  7. Das sind die gleichen, die uns erzählen, man könne nix gegen Überschwemmungen machen.
    Ich wohne in Kraichtal und es ist unglaublich, was hier auf den Straßen zs.gefahren wird.
    Mit dem Roller Versuche ich immer auf Nebenwegen zu fahren.
    Was ist hier eigentlich in den letzten 30 Jahren gemacht worden. NIX!!!

  8. Wär vielleicht auch gut, wenn auch die mit KI erzeugte hübsche junge Dame beim Rollerfahren auf der Landstraße einen Helm tragen würde…
    Von diesen Helmlosen sind auch viel unterwegs…da wird auch nix gemacht.

  9. Guter Artikel!
    Aber: das, was da mit dem Roller passiert ist, passiert bei uns jeden Tag. Direkt am Wohnzimmerfenster.

  10. Vor vielen vielen Jahren gab es mal einen roten „Abstandshalter“ den ein Kaffeehersteller für Radfahrer im Angebot hatte. Ich kaufte damals Einen und ja er hatte seine psychologische Wirkung. Manche Autofahrer argumentieren eben, warum Leute die mit einem Rennrad unterwegs sind, keine Radwege benutzen, sondern Straßen. Weil es wenig Sinn macht! Aber auch hier gibt es Vorschriften für Leute, die mit dem Rennrad unterwegs sind. (NICHT nebeneinander fahren)

  11. Es ist auch mittlerweile nicht mehr normal was da an LKW fährt und Kennzeichen die irgend ein Stau auf der AB umfahren..

    Mit etwas Rücksicht kann man auch auf der Strecke Uö-Mü ein Roller (45km/h)mit genug Abstand überholen, aber meist reist da die Geduld schon früher bevor man an geeigneter Stelle ansetzen kann.

    Schlimmer finde ich die Radfahrer die da rumeiern und schön mittig fahren dass man nicht überholen kann, zu meiner Schande muss ich sagen dass mir da auch schon öfters der Geduldsfaden gerissen ist… Aber nur weil ich weiß dass es ein Radweg gibt und die Egoisten den nicht benutzen wollen.

    Auch schlimm auf der Strecke sind die, die „nach Vorschrift“ fahren. Da wir bis zum Schild 100 gefahren und dann voll auf 60-70 gebremst. Statt das man vorher vom Gas geht und rollen lässt und dann wird man so dargestellt als würde man drängeln weil man bei dem abrupten Bremsen dem vorausfahrenden so nahe kommt…

    Mein Fazit, ich hasse es mittlerweile nur noch Auto zu fahren, bei den ganzen Idioten …

  12. Bezüglich Velomobile stimme ich der hier geäußerten Meinung, dass man die gut sehen könnte NICHT zu.
    Im Gegenteil man übersieht sie leicht.
    Schon vor dem Unfall in Philippsburg habe ich mich bei denen gefragt ob es hier vielleicht um Todessehnsucht, ausgesprochene Liebe zum grossen Risiko (hohe Eintrittswahrscheinlichkeit, hoher Schaden) geht ?

    • Ihre Meinungen in allen Ehren, aber der zweite Teil ihres Kommentars voller kaltem Zynismus ist eingedenk der jüngsten Ereignisse pietätlos

  13. Wie war das nochmal mit den Kontrollen? Zitat einer OB …“wir konzentrieren uns auf den stehenden Verkehr“ (Falschparker)

    Weniger Aufwand mehr Einnahmen. Wer braucht schon Sicherheit im rollenden Verkehr?
    Aber egal wie. Ich sehe als Hauptproblem der schnell wachsende Egoismus der Gesellschaft. Aus dem Weg hier komme ICH!!! und dann lang lang nichts mehr.
    Arme Menschheit…

  14. In einem entsolidarisierten Land mit einer entsolidarisierten Gesellschaft gibt es eben auch einen entsolidarisierten Verkehr.

  15. Gerade vorhin erlebt (ca. 22:30): Bus hält mit Warnblinkanlage an Bushaltestelle, PKW fährt an Bus vorbei und gibt Vollgas.
    Und das Ganze bei Geschwindigkeitsbegrenzung 30.
    Und was passiert? Nix!
    In Kraichtal werden Verkehrsregeln nicht eingehalten und nicht kontrolliert.

  16. Hier gehört raus geblitzt, was das Zeug hält. Das sorgt für Disziplin und füllt die Stadtkasse.
    Anderswo ist da schlauer und weiter.

  17. Die ganze Welt ist voller Kriege…und wenn man mit so einem Roller unterwegs ist, merkt man sehr schnell, welchen Krieg wir uns hier auf den Straßen leisten.

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